Reise-Erinnerungen

[90] Wenn jemand von einer Reise zurückgekehrt ist, hat er das Bedürfnis, seinen Freunden davon zu erzählen. Häufig geschieht das in Form eines Dia-Abends, bei dem die Fotos zusammen mit einem gesprochenen Kommentar vorgeführt werden.

Auch eine Dia-Vorführung ist ein sprachliches Problem. Denn sie bedeutet immer einen Einbruch in die Gesellschaftlichkeit: Hatten vorher alle Gäste das Recht, sich an der Konversation zu beteiligen, werden sie nun plötzlich zum Schweigen und zum passiven Aufnehmen genötigt. Die Vorführung muß schon sehr gut sein, daß man das ohne inneren Protest erträgt.

Was die Qualität der Dias anbetrifft, beschränken wir uns auf den Ratschlag, daß nur wirklich schöne Fotos gezeigt werden sollen – alle andern, seien sie noch so lustig oder dokumentarisch wertvoll, sind rücksichtslos auszuscheiden. Und vor allem: ein gewisses Maß soll nicht überschritten werden. Etwa 70 Aufnahmen sind genug – wer seinen Gästen 300 Dias vorsetzt, ist ein Barbar, möge er sich sonst noch so gebildet und feinsinnig geben. Ähnliches gilt für Video-Darbietungen.

[90] Auch die mündlichen Reiseberichte sollen sich in Grenzen halten. Die Gäste haben in der Regel durch aus nicht den Wunsch, über ein Land, das ihnen fremd ist, einen unangekündigten Vortrag zu hören. Ein Abend, an dem nur von Samos, nur von Agadir, nur von Samarkand gesprochen wird – und wäre es noch so gescheit – ist ein Verstoß, für den es keine Entschuldigung gibt.

Es gibt andererseits auch Gründe, den Hörer um Verständnis für den Erzähler zu bitten. Dies sei durch eine Anekdote veranschaulicht, die in unserer Familie die Beefsteak-Geschichte heißt. Ein befreundetes Ehepaar machte eine Gesellschaftsreise über einen schweizerischen Alpenpaß mit und erzählte nachher begeistert – nicht etwa von den landschaftlichen Schönheiten, sondern einzig von dem wunderbaren Beefsteak mit ebenso wunderbaren Beilagen, das man im Gasthaus auf der Paßhöhe vorgesetzt bekommen habe. Unsere Familie reagierte auf diese Erzählungen – nachdem die Erzähler sich verabschiedet hatten – sehr verschieden. Einer begann sogleich zu tadeln: »Was sind das für gräßliche materialistische Leute, die kein Wort über die wunderbare Landschaft verlieren und nur ans Essen denken.« Ein anderer dagegen verteidigte die »Angeklagten«: »Diese Leute waren von der ganzen Reise – von der Landschaft und allem – begeistert, und sie hätten auch von der Landschaft gesprochen, wenn sie es gekonnt hätten. Was aber hätten sie da sagen müssen? Etwa dies: ›Der Himmel war von einem tiefen Pflaumenblau, wie man es sonst nur in Griechenland oder im Engadin sieht – und dazu die hohen Felswände, in Schichten von Ocker und Graurosa abwechselnd, und hie und da ein Wasserfall wie eine dünne weiße Schnur – das müßtet ihr gesehen haben.‹ So etwa hätten die guten Leute reden müssen – aber sie waren keine Dichter, nicht einmal gute Prosaisten, und so beschränkten sie sich auf das, was sie in Worten ausdrücken konnten, nämlich die Freude an ihrem Beefsteak.«

So geschieht es tatsächlich oft bei Reise-Erinnerungen: Die Erzähler vermeiden es, von dem zu sprechen, was sie nicht ausdrücken können – getreu dem Ausspruch Wittgensteins: »Worüber [91] man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« – und halten sich an Einfaches: das Essen, die Unsauberkeit des Zimmers, vorteilhafte Einkäufe und schwindelhafte Straßenhändler. Sie werden dann von »idealgesinnten« Zeitgenossen als Materialisten beurteilt; das sind sie aber noch lange nicht, sie sind nur keine Dichter, und das kann man niemandem zum Vorwurf machen.


ZU BEACHTEN


Auf Reisen scheiden sich die Menschen in zwei Gruppen:

Die Apolliniker, die vor allem die Objekte ansehen und dabei die eigene Individualität behalten wollen.

Die Dionysiker, die vor allem in Stimmung geraten und die Schranken der Individualität überschreiten wollen.

Diese beiden Gruppen müssen sprachlich Rücksicht auf einander nehmen.


Der Dionysiker muß mit dem Ansprechen und Verbrüdern zurückhaltend sein.


Der Apolliniker soll gegenüber Verbrüderern einige, aber nicht grenzenlose Toleranz zeigen. Er soll es vermeiden, mit seinen Kenntnissen die andern zu schulmeistern und dem Reiseführer ins Handwerk zu pfuschen.


Der Reiseführer soll in seinen Ausführungen Pausen machen und den Touristen Gelegenheit geben, mit dem schönen Objekt wortlose Zwiesprache zu halten.


Reise-Erzählungen sollen kurz sein. 70 »brutal« ausgewählte Dias genügen als Illustration.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 90-92.
Lizenz:
Kategorien: