Wo darf man nicht schweigen?

[190] Das Verschweigen hat noch andere Grenzen. Überall dort, wo ein Verschweigen dem Partner schadet und niemandem nützt, dort muß geredet werden. Wenn ich höre, daß sich vor einer wichtigen Versammlung eine Camorra bildet, die meinen Freund in der Abstimmung zu Fall bringen will, dann ist Diskretion nicht mehr am Platz.

Ein Mann, der vor der Heirat steht, darf seiner Braut keine Krankheit verschweigen, an der er leidet – nicht einmal ein Ekzem – denn das kann für ihr Wohlbefinden entscheidend sein. Im allgemeinen nimmt man an, daß ein Heiratswilliger nicht mit verborgenen Mängeln behaftet sei; ist er es dennoch und verschweigt es, so geht das gegen Treu und Glauben – ganz wie es beim Kauf und Verkauf einer Sache zugeht.

Ein Mädchen, das vor der Heirat steht und vorher von einem andern Mann ein Kind gehabt hat, muß dies ihrem künftigen Gatten sagen. Man mag einwenden, die voreheliche Keuschheit sei aus der Mode gekommen. Darüber kann man verschiedener Meinung sein. Wenn aber ein Mensch existiert, sei er noch so klein, der elementare Ansprüche an seine Mutter hat, dann muß der künftige Mann dieser Mutter davon wissen.

[190] Durch behutsames Sondieren können Menschen, die sich verheiraten oder sonst in verbindliche Beziehungen treten wollen, ohne Mühe herausfinden, auf welche Dinge der künftige Partner besonderes Gewicht legt, ob er zum Beispiel frühere sexuelle Erfahrungen des anderen für verwerflich, für unwichtig oder für das einzig Richtige hält. Und überall dort, wo man merkt, daß eine Sache dem Partner lebenswichtig erscheint, dort muß man ihn auch rückhaltlos ins Bild setzen. Und zwar rechtzeitig, nicht erst unter Gewissensdruck am Hochzeitsabend.

Dies gilt natürlich nicht nur für die Heirat, sondern für alle partnerschaftlichen Situationen. Um wissen zu können, ob Verschweigen oder Reden das bessere ist, muß man den Gesprächspartner gut kennen lernen, so daß man weiß, welches Maß von Wissen für ihn das richtige ist. Dies läßt sich nur in längeren Gesprächen und mit Einfühlung erreichen.


ZU BEACHTEN


Nicht alles weiterplappern. Das Maul nicht halten können ist ein schlimmer Fehler.


Etwas Schlechtes hinterbringen ist perfid.


Die Fähigkeit, am rechten Ort zu schweigen, kann durch Training gesteigert werden.


Besser zum Nutzen anderer sündigen, als zum Schaden anderer tugendhaft sein.


Auf grobe Neugier gehört ein grober Keil.


Diskrete Indiskretionen können segensreich sein.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 190-191.
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