Universitätsleben

[43] Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust

Und eine will sich von der andern trennen.

Goethe.[43]


Meine drei Paten hatten bei meiner Taufe einen Sparpfennig hinterlegt, welcher zur Unterstützung meiner Studienzeit dienen sollte. Dieser war im April 1876 mit Zinseszinsen auf 163 Taler (je 3 Mark) angeschwollen. Ich hob ihn nach meiner Ankunft in Immensen ab, und er stellte das Vermögen dar, mit welchem ich einen Studiengang von drei Jahren bestreiten sollte. Denn die Kasse meiner alten Mutter durfte ich nicht mehr in Anspruch nehmen. Ich war von nun an völlig auf mich selbst angewiesen.

Ich beschloß, zunächst in Göttingen Geschichte und Geographie zu studieren, mich indes als Jurist immatrikulieren zu lassen, weil mir dies einen weiteren Spielraum für zukünftige Betätigungen zu bieten schien. Gleichzeitig wollte ich meiner Militärzeit als Einjähriger genügen. Ich reiste also am 31. März 1876 dorthin und stellte mich am nächsten Morgen zur ärztlichen Untersuchung. Das Ergebnis war, daß ich wegen Kurzsichtigkeit als »bedingt tauglich« zunächst zurückzustellen sei. Diese Kurzsichtigkeit habe ich voraussichtlich meinem unüberwindlichen Hang zum Lesen, welchem ich seit frühester Kindheit gefrönt habe, zuzuschreiben.

Ich nahm mir nun in Göttingen eine Studentenwohnung von zwei Zimmern und beschloß, den Rest der akademischen Ferien bis zum Beginn der Vorlesungen dort zuzubringen. Es zeugt für meinen jugendlichen Leichtsinn, daß der Mangel an Geldmitteln mir damals gar kein Kopfzerbrechen machte. Den werde ich schon irgendwie ausgleichen, meinte ich. Auf keinen Fall hatte ich die Absicht, meine Studienzeit[44] zu unterbrechen, um mir etwa als Hauslehrer weitere Mittel zu beschaffen. Ich hatte zu jener Zeit die Vorstellung, woher, weiß ich nicht, daß das Hauslehrertum ein höheres Lakaientum darstelle, welches unter allen Umständen die Charaktere verderbe. Zunächst unternahm ich einen Kursus bei einem tüchtigen Fechtlehrer, um im Schläger- und Säbelfechten möglichst ausgebildet zu sein für den Beginn des Semesters. Tatsächlich habe ich auch, besonders im Schlagen von Tiefquarten, eine große Gewandtheit erlangt, welche mir für zukünftige Streitfälle sehr zustatten gekommen ist. Gleichzeitig fand ich schon in den Ferien einen älteren Ökonomen, dem ich täglich Privatstunde in Lateinisch und Griechisch erteilte, wodurch ich meinem schwindenden Kassenbestand aufhalf.

Der Übergang vom Klosterleben in Ilfeld zur akademischen Freiheit rief geradezu ein moralisches Aufatmen in meiner Seele hervor. Man wird es mir kaum nachfühlen können, wie tief ich es empfand, nicht mehr auf Befehl zu Bett gehen und morgens früh auf stehen zu brauchen, meine Mahlzeiten einnehmen zu können, wann es mir paßte, lesen und arbeiten, oder auch nicht arbeiten zu dürfen, wann ich selbst Luft dazu empfand. Was der Besitz eines eigenen Hausschlüssels für mich bedeutete! Ich glaube, ich bin in den ersten Wochen oft nur deshalb nach zehn Uhr abends in einen benachbarten Ort, etwa Geismar oder Weende, gegangen, weil die Ilfelder zu dieser Zeit im Bette liegen mußten. Ich genoß die neuerlangte Freiheit mit Bewußtsein.

Vor allem kam es darauf an, meine Kassenverhältnisse auf eine solide Grundlage zu stellen. Zunächst bewarb ich mich um ein Celler Stipendium. Dies erhielt ich auch und gewann dadurch eine regelmäßige Jahreseinnahme von 70 Talern (210 Mark). Ferner tat ich mich am Schwarzen Brett des Universitätsgebäudes um und erfuhr dort, daß der Vorsitzende des Vereins für Volksbildung, Herr Dr. Post,[45] eine Kraft für die Ausarbeitung zweier Museumskataloge, eines geographischen und eines kunstgeschichtlichen, gegen angemessene Bezahlung suchte. Ich bewarb mich durch Einsendung eines volkstümlichen Vorwortes um beide und erhielt die Arbeiten auch zuerteilt. Ich habe sie in meinem ersten Semester beide geschrieben und hatte damit wirklich eine, wenn auch kleine, regelmäßige Einnahme. Später suchte am selben Schwarzen Brett der Besitzer des »Beobachters am Harz« zu Seesen einen Studiosen, welcher dreimal wöchentlich einen politischen Leitartikel schreiben könne. Auch hierfür bewarb ich mich durch Einsendung einer Probe und erhielt die Stellung gegen ein festes kleines Monatsgehalt. Um diesen Gegenstand gleich zu beschließen, so bewarb ich mich von Tübingen aus durch eine Arbeit über den Kreuzzug von 1101 unter Professor Kugler um die Klostermeyer-Stiftung in Detmold. Die Klostermeyer-Stiftung war begründet, um einem bedürftigen Studierenden der Staatswissenschaften eine jährliche Unterstützung von 1200 Mark zu gewähren. Obwohl der Mitbewerb stark war, erhielt ich diesen Preis zunächst auf drei Jahre, dann noch auf ein viertes Jahr verlängert, und von nun an war mein Wechsel dem meiner meisten wohlhabenderen Kommilitonen überlegen. Meine kleinen Restschulden in Ilfeld, Göttingen und Tübingen wurden bezahlt und ich konnte in völliger Gemütsruhe der weiteren Entwicklung der Dinge entgegensehen, um so mehr, als mein Gehalt in Seesen verdoppelt ward. Von Tübingen ab erhielt ich das Zweifache meines Monatsgehaltes und brauchte statt drei nur noch einen Leitartikel wöchentlich zu liefern. Es ist eben überall der Fall: »Wer da hat, dem wird gegeben, ja überschwenglich gegeben werden; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen werden, was er hat.« Matthäus XIII, 12.

In Göttingen hörte ich unter anderem organische Chemie bei Professor Wöhler, die Reden des Demosthenes bei[46] Professor Saupe, Geschichte der französischen Revolution bei Professor Weizsäcker und beteiligte mich an den psychophysiologischen Übungen des damaligen Privatdozenten Dr. Müller. Vor allem aber warf ich mich auf das Studium der Philosophie. Ich las die Werke von Hartmanns, und sehr bald auch Artur Schopenhauers. Ich machte mich an Kants Kritik der reinen Vernunft. Psychologie hörte ich bei Professor Lotze. Nachts, mochte ich um ein Uhr oder später nach Hause kommen, fand ich meine Lieblingswerke auf meinem Nachttische und las bis in die frühen Morgenstunden hinein. Mehr und mehr Einfluß gewann die Weltanschauung Artur Schopenhauers auf meinen Geist, wozu freilich dessen schöner und klarer Stil erheblich beitrug. Fichte, Hegel, Schelling mit ihrer breiten, gewäschartigen Schreibweise, die ich gleichzeitig durcharbeitete, stießen mich so ab, daß ich sie bald beiseite warf. Von Schopenhauer habe ich schon früh gelernt, daß ein Buch, über dessen Sätze man nachgrübeln muß, um sie auch nur zu verstehen, überhaupt nicht wert ist, gelesen zu werden. Neben Masius und Mommsen ist er der dritte Kopf, welcher wesentlichen Einfluß auf meine Denkweise gewonnen hat.

Ich würde in Göttingen sehr gerne Korpsstudent geworden sein; aber dazu reichte mein Wechsel nicht aus. Aber von Ilfeld aus war die Gewohnheit, Vorsitzender einer Körperschaft zu sein, so stark in mir geworden, daß ich mir eine eigene kleine Verbindung schuf, welche mich denn auch zu ihrem Präses wählte, obwohl es am Schluß meines ersten Semesters war. Im übrigen trat ich in den akademischen Turnverein ein und hatte die Freude, bei einem allgemeinen deutschen Schauturnen im Herbst 1876 den zweiten Preis im Ringen zu erzielen. Wir Turner machten des Sonntags in der Regel gemeinsame Ausflüge in die Göttinger Umgegend nach den Gleichen und andern Aussichtsorten. Pfingsten 1876 machte ich mit meinem Neuhäuser Altersgenossen, Magnus Ehrhorn, eine Fußreise über Hannoversch-Münden[47] nach Kassel und der Wilhelmshöhe und zurück. Spaziergänge um den Wall und nach den benachbarten Orten waren regelmäßig jeden Tag. So hielt ich meine Muskeln auch damals in Übung. Daneben genoß ich das akademische Leben in vollen Zügen. Sonnabends abends fanden unsere feierlichen Kneipen statt, Sonntags unsere Exkneipen in die Umgegend. An den andern Abenden unterhielten uns die Bierkonzerte bei Burhenne oder Skat im Ratskeller oder anderswo. Zu Hause war ich selten. Die großen Ferien verbrachte ich, der Reise-Ersparnis wegen, bei meinem ältesten Bruder Arnold, welcher damals Pastor in Sack bei Alfeld war, oder auch zum Teil bei meinem Schwager Nötel, an der andern Seite von Alfeld. In diesen schönen Herbstmonaten genoß ich das liebliche Leinetal, aber ich schrieb auch viel für die Veröffentlichung, las Goethe, Shakespeare und Byron und versuchte mich in Nachahmuns gen. Diese Versuche veröffentlichte ich zum Teil unter dem Namen C. Fels, unter anderm einen Roman »Entrissen und Errungen«. Aber ich fand bald heraus, daß die Natur mich augenscheinlich nicht zu einer rein schriftstellerischen Tätigkeit bestimmt habe, daß mein Beruf viel mehr auf einer praktischen Betätigung liege, und die alte Sehnsucht nach Nordamerika blieb stets lebendig in mir. Ich darf für mich immerhin in Anspruch nehmen, daß ich schon damals bei der Wahl meines Lebensberufes sehr sorgfältig auf die Stimme meiner eigenen Seele hingehorcht und mich dahin gewendet habe, wohin sie mich rief.

Mein drittes Semester, von Mitte April bis Mitte August 1877, beschloß ich in Tübingen zuzubringen. Ich traf dort zwei engere Ilfelder Freunde, welche im März 1877 ihr Abiturienten-Examen gemacht hatten: Karl Jühlke und Max Berthold. Der Schritt meinerseits, mein Betätigungsfeld weiter von meiner Rückzugslinie in der Provinz Hannover zu verlegen, ward mir von mancher Seite als Leichtsinn ausgelegt. Denn ich mußte mein Celler Stipendium aufgeben,[48] wenn ich von Göttingen wegging, und hatte die Klostermeyer-Stiftung noch nicht gewonnen. Aber ich begann, mich meiner Erfolge auf diesem Gebiet immer sicherer zu fühlen.

In Tübingen war der Höhepunkt meines gesamten Universitätslebens. Es feierte im Sommer 1877 sein 50jähriges Jubiläum. Jühlke hatte einige Freunde aus Potsdam mitgebracht, ich meinen Freund Baldamus aus Göttingen, andere schlossen sich an, und so gründete ich bereits am Abend meines Eintreffens eine neue schlagende Verbindung, deren Vorsitzender ich wurde. Wir nannten sie »Ilfeldensia«, und beschlossen, nur auf Korpswaffen zu schlagen. Da ich gleich in der ersten Nacht auf der Neckarbrücke in eine Mensur mit einem Schwaben verwickelt wurde, so belegten wir Frankenwaffen.

In Tübingen ließ ich mich noch einmal in der juristischen Fakultät immatrikulieren. Ich schrieb dort nicht nur die schon erwähnte quellenkritische Arbeit über den Kreuzzug von 1101 bei Professor Kugler, sondern begann auch, zum erstenmal Arbeiten für deutsche größere Zeitschriften zu unternehmen. Besonders aber genoß ich die schöne Umgegend, das sonnige Neckartal, das Waldhörnle, Derendingen, Lustenau und die akademische Freiheit. Sonnabend nachts, nach unserer Kneipe, fuhren wir zuweilen in Landauern nach Stuttgart, und zu Pfingsten unternahmen meine Freunde und ich eine Fußreise durch das sonnige Württemberg und Südbaden, besuchten Ulm und den Hohenstein, Freiburg im Breisgau und den Rheinfall bei Schaffhausen, sowie Konstanz am Bodensee.

Auch in Tübingen trat ich wiederum in den Turnverein, und, da ein Teil meiner Kommilitonen, z.B. Jühlke, dem Gesangverein beitraten, so gewannen wir einen gewissen Einfluß in den breiten Klassen der Studentenschaft, und erreichten es, daß das uns befreundete Korps der Franconen den Vorsitz bei der bevorstehenden 500jährigen Feier des Universitäts-Jubiläums erhielt.[49]

Das Semester in Tübingen war besonders reich an lustigen und übermütigen Studentenstreichen, an denen es auch in Göttingen nicht gefehlt hatte, und, trotzdem ich einen großen Teil meiner Zeit »im Korbe« lag, habe ich kaum ein halbes Jahr meines Lebens so ausgenossen, wie damals. Mit den Feiern der Universität schloß das Halbjahr ab, und ich mußte noch einen Teil meiner Mensur-Verpflichtungen auf den kommenden Winter verschieben, um in der schönen Neckarstadt frei zu werden. Endlich um Mitte August fuhr ich über Frankfurt, Mainz, Köln rheinabwärts und dann durch Westfalen nach Hannover, wohin meine Mutter inzwischen von Neuhaus übergesiedelt war, bei welcher ich diesmal für die langen Herbstferien abstieg.

Im September erhielt ich die erste Hilfe der Klostermeyer-Stiftung aus Detmold. Da ich mit Baldamus in Tübingen, welcher sich auch beworben hatte, halb im Bierübermut ausgemacht hatte, daß, wer von uns beiden auch den Preis erhalte, dem andern die Hälfte des ersten Jahresbetrages abgeben solle, und, da ich jetzt reine Bahn mit allen meinen noch rückständigen Schulden machte, blieb für mein erstes Semester in Berlin, welches ich im Oktober 1877 begann, nicht allzuviel übrig, und ich mußte mich dort in der ersten Zeit wieder gehörig einschränken.

Ich bezog demnach nach meinem Eintreffen ein billiges Zimmer in der Invalidenstraße, gegenüber dem Stettiner Bahnhof, und trat diesmal auch in keinen Verein, auch zum erstenmal nicht in einen Turnverein. Dafür besuchte ich gleich in den ersten Tagen den Geheimrat Waitz, den damaligen Herausgeber der »Monumenta Germaniae«. Dieser hatte an den Freitag Abenden geschichtliche quellenkritische Übungen für junge Gelehrte älteren Semesters. Ausnahmsweise nahm er mich, der ich erst mein viertes Semester begann, in diese Übungen auf, und ich muß gestehen, daß ich ihm zu großem Dank verpflichtet bin für das, was ich in der geschichtlichen Wissenschaft gelernt habe. Außerdem[50] hörte ich Kollegien bei den großen Leuchten der Geschichte, welche sich damals an der Berliner Universität drängten: u.a. Römische Geschichte bei Mommsen, Preußische Geschichte bei Droysen, Politik bei Treitschke, Handschriftenkunde bei Wattenbach, Geographie bei Kiepert, Staatsrecht bei Rudolph Gneist, vor allem Geschichte des Mittelalters und Verfassungsgeschichte bei K. W. Nitzsch. Dieser zog mich auch zu seinem häuslichen Kreis, und er hat meine geschichtliche Auffassungsweise stark beeinflußt. Daneben betrieb ich immerfort Artur Schopenhauer und Kant sowie alle deutschen großen Geschichtswerke, vor allem Rancke.

Einem Verein gehörte ich in Berlin nicht wieder an. Jühlke war nach Leipzig gegangen, Berthold in Tübingen geblieben. Dafür traf ich Harry Denicke wieder, mit welchem ich eifrig verkehrte. Da mein Wechsel knapp war, nahm ich meine Mahlzeiten entweder in den Akademischen Bierhallen oder in einer »Gemeinnützigen Speiseanstalt« ein.

Um einen Ersatz für meine früheren Vereine zu haben, gründete ich in meinem ersten Semester in Berlin den sogenannten Pfropfen-Verein oder »Proppenbund«, der sich bald über eine Reihe von Universitäten ausbreitete und in Berlin selbst Tausende von Mitgliedern gewann. Das ganze war ein Bierscherz, den ich doch hier kurz erwähnen will. Jedes Mitglied hatte einen Kork in der Westentasche zu tragen, den er den Fremden, denen er begegnen möge, unter die Nase zu halten habe, mit der Frage: »Mitgebracht?« Falls dieser nicht Bescheid wußte oder keinen Kork mitgebracht hatte, so war er unter den Arm zu greifen, in die nächste Kneipe zu schleppen und sollte ein Glas Freibier ausgeben. Ich hatte Satzungen drucken lassen, welche eine Reihe von Vorteilen für die Mitglieder des Bundes aufführten: z.B. durften sie in allen Wirtschaften Freibier, bei allen Eisenbahnen, Posten und sonstigen Verkehrsanstalten auf der ganzen Erde freie Fahrt verlangen. »Wird ihnen solches auf ihren bescheiden zu äußernden Wunsch nicht[51] gewährt, so sollen sie den Betrag dafür im Deutschen Reich in der deutschen Reichsmünze, in fremden Staaten in den dort gangbaren Geldsorten bezahlen.« Dafür wurden den Mitgliedern alle Arten von Einschränkungen auferlegt: z.B. durften sie die Schrauben an Wagenrädern nicht abbeißen, »weil dadurch leicht Unglücksfälle entstehen könnten«, keine Kälber ins Bein beißen, »weil dadurch Krankheiten übertragen werden« usw. und was dergleichen Scherze mehr waren.

Sonntags hielten wir große Bundessitzungen beim Gastwirt Schwietzke in der Auguststraße ab, an welcher auch Bundesschwestern teilnahmen, und welche im Geist der Satzung mit Bierreden usw. verliefen.

Nach den Übungen bei Geheimrat Waitz in der Bendlerstraße aßen wir Teilnehmer meistens im Leipziger Garten zu Abend. Dabei führte ich die gelehrten Genossen alsbald in den Proppenbund ein und hielt Sitzungen der oben gekennzeichneten Art ab. Es war im Winter 1877/78 viel von einer Preisaufgabe über den Frieden zu Venedig die Rede. Leider sei die Aufgabe so umfassend, daß sie in einem halben Jahr – das war der Termin, den die philosophische Fakultät der Universität gestellt hatte – nicht zu lösen sei. Tatsächlich handelte es sich um eine genaue quellenkritische Untersuchung aller auf diesen Frieden bezüglichen Quellen und Urkunden; und diese Arbeit mußte vor dem 3. April 1878 eingereicht werden.

Ärgerlich über die Störung, welche das viele Gerede darüber meiner Proppenbund-Sitzung verursachte, rief ich eines Abends im Januar 1878 über den Tisch: »Lassen Sie doch das ewige Gerede über diese Preisarbeit; wenn Sie sie nicht machen können, muß ich mich noch selbst daran machen.« Ein schallendes Gelächter antwortete; denn man hielt dies für einen der Scherze des Vorsitzenden vom Proppenbunde. Ich hatte bis dahin nicht einmal gewußt, in welchem Jahre der Friede zu Venedig geschlossen war.[52]

Aber dieses Gelächter reizte mich, den Herren doch zu zeigen, daß ich solche Arbeit wohl machen könne.

Ich hatte bis zum 3. April noch etwa zehn Wochen Zeit und machte mich nun mit allem Eifer an die Arbeit. Hierbei wurde ich unterstützt durch die Knappheit meiner Geldmittel, welche mich verhinderte, des Abends in eine Bierwirtschaft zu gehen, ja auch nur mir einzuheizen. In Tücher gehüllt, saß ich hinter meinen Büchern und lieferte meine Arbeit auch zur rechten Zeit ab.

Am 3. August 1878 verkündete der damalige Rektor, Professor Helmholtz, in feierlicher Sitzung das Ergebnis. Ich erinnere mich noch, daß ein Dr. B., ein Teilnehmer der Waitzschen Übungen, sich mir gegenüberstellte, weil er irgendeinen Ulk erwartete. Aber Professor Helmholtz erkannte mir die goldene Medaille zu1, und als Dr. B., nicht gerade sehr erbaut, mir dazu Glück wünschte, sagte ich ihm: »Wissen Sie, dazu nehme ich gar keine Glückwünsche an, das hätten[53] ja zur Not, wenn Sie sich ein halbes Jahr Mühe gegeben haben würden, selbst Sie fertig bringen können.«

Mit diesem Preis war mein Universitätsstudium eigentlich praktisch beendigt. Meines Wissens habe ich nach dem August 1878 Berufskollegien nicht mehr gehört. Nur ging ich zu Anfang der Semester in den Kollegiensaal und suchte mir irgendeinen, womöglich blaß und elend aussehenden Studiosus aus, der mitschrieb, »als diktiere ihm der Heilige Geist«. Ihm stellte ich mich nach dem Kolleg vor und bat ihn, mir am Schluß des Semesters sein Kollegienheft auf einige Tage zu leihen. Dessen Inhalt las ich durch und prägte ihn meinem Gedächtnis ein. Meine Arbeit veröffentlichte ich in der Hahnschen Hofbuchhandlung zu Hannover, und meine Leser, soweit sie sich dafür interessieren, können sie sich noch heute verschaffen. Sie erschien, wie gesagt, unter dem Titel: »Untersuchungen zum Frieden von Venedig«.[54]

Ich selbst ließ mir einen Pelzrock machen und kaufte mir einen Zylinder. So bekleidet pflegte ich von Zeit zu Zeit in den Zwischenpausen feierlich auf dem Vorhof des Universitätsgebäudes »Unter den Linden« auf und ab zu stolzieren. Einen Teil meiner Preisarbeit ließ ich im einzelnen drucken, und habe darauf im Sommer 1879 an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin promoviert. Im November 1880 machte ich ebenfalls in Berlin mein Oberlehrer-Examen, wobei ich in Geschichte und Geographie die Berechtigung erlangte, in der Prima jedes Gymnasiums zu unterrichten.

Doch dies waren alles Lappalien im Vergleich mit den Studien zu meiner Preisarbeit selbst. Examenfieber ist mir stets lächerlich erschienen. Aber eine Bemerkung möchte ich mir im Hinblick auf meine spätere Tätigkeit gestatten. In der deutschen Presse habe ich oft die verwunderte Frage gelesen, wie ich dazu komme, geographische Fragen zu lösen und geologische Formationen zu kennen. Soweit ich sehe, bin ich von allen bekannten Afrikareisenden der einzige, welcher Berufsgeograph von Fach ist, und die Geologie war auch schon 1879 ein Nebenfach der Erdkunde. Weshalb sollte es denn da wunderbar sein, daß gerade ich an geographischen Aufgaben Interesse nahm und geologische Kenntnisse besaß?

Berthold hatte im Sommer 1878 mit mir zusammen eine Wohnung in der Linienstraße von drei Zimmern innegehabt. In den folgenden Ferien verheiratete er sich, gab seine juristische Laufbahn auf und wanderte nach Nordamerika aus, wo er zu meiner Freude eine vorzügliche Karriere gemacht hat. 1893 habe ich ihn in Boston besucht. Karl Jühlke wohnte von Sommer 1878 ab bei seinen Eltern in Sanssouci, und studierte von da aus Jurisprudenz in Berlin. Da sein Vater ein guter Freund des Fürsten Bismarck war, schien ihm eine glänzende deutsche Laufbahn bevorzustehen. Wir sind von da ab in regstem Verkehr geblieben. Ich selbst war von 1887 in der philosophischen[55] Fakultät immatrikuliert, da ich mich entschlossen hatte, zum Abschluß meiner akademischen Laufbahn in Berlin mein Doktor- und mein Oberlehrer-Examen zu machen. Aber meine nordamerikanischen Pläne blieben auch in diesen Jahren im Hintergrunde stehen. Vorläufig genoß ich die Freuden der neuen Reichshauptstadt, eingeschränkt durch eine eifrige private Tätigkeit, besonders in Philosophie und Geschichte.[56]

1

Die von der philosophischen Fakultät gestellte Preisaufgabe hieß wörtlich:

»Allseitige und erschöpfende Untersuchung der Nachrichten und Urkunden, welche über den 1177 zu Venedig zwischen Kaiser Friedrich I. und Papst Alexander III. geschlossenen Frieden überliefert sind, und Darstellung sowohl der Sachlage vor dem Frieden als auch der Verhältnisse, wie sie durch denselben festgestellt wurden und infolge desselben sich gestalteten.«

Das über die von mir eingereichte Arbeit gefällte Urteil lautete:

»Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei Arbeiten eingereicht worden deren erste mit dem Motto: ›Es irrt der Mensch so lang er strebt‹ versehen ist, die zweite mit dem Spruch: ›Die größten Schwierigkeiten liegen da, wo wir sie nicht suchen.‹ Beide Arbeiten zeugen in erfreulicher Weise von dem auf den Gegenstand verwendeten Fleiße, von den geschichtlichen Kenntnissen der Verfasser und von kritischem Scharfsinn. Die zuerst genannte hat bei sehr ansehnlichem Umfange den Vorzug eines genaueren und ausführlicheren Eingehens auf die hier in Betracht kommenden Fragen und Schwierigkeiten. Sie hat auch den Vorzug einer zweckmäßigen Methode, indem einerseits die geschichtliche Sachlage gezeichnet ist, aus welcher der Kampf und endlich das Friedensbedürfnis hervorgegangen war, andererseits die Spezialkritik der Quellen mit der Darstellung selbst in Verbindung gebracht, wodurch in mancher Beziehung ein besseres Verständnis der Dokumente erreicht ist. Nicht durchgängig wird der Verfasser Zustimmung erwarten können, weder in seiner Kritik der überlieferten verschiedenen Texte des Friedensschlusses noch in seiner Auffassung der Politik des Kaisers. Die Einwirkung der deutschen Bischöfe ist zu wenig in Anschlag gebracht, und die wachsende Spannung zwischen ihnen und Heinrich dem Löwen nicht in Betracht gezogen. Eine eingehendere Beschäftigung mit den deutschen Verhältnissen würde hier zu anderer Auffassung geführt haben, und ebenso sind die Beziehungen zu dem Bunde der Lombardischen Städte zu wenig beachtet, dem Verfasser waren die von Vignati in der Geschichte desselben veröffentlichten Urkunden entgangen. Ungeachtet dieser Mängel sind die Vorzüge der Arbeit, namentlich auch die lebhafte und gewandte Darstellung, und die Auffassung der großen geschichtlichen Verhältnisse in einer Weise, welche gute Erwartungen für fernere Leistungen erweckt, der Fakultät so überwiegend erschienen, daß sie beschlossen hat, der Arbeit mit dem Motto: ›Es irrt der Mensch, so lang er strebt‹ den Preis zuzuerkennen.«

Meine Arbeit hatte das Motto: »Es irrt der Mensch so lang er strebt« und war demnach die preisgekrönte. Sie ist unter dem Titel: »Untersuchungen zum Frieden von Venedig« im Buchhandel erschienen.

Quelle:
Peters, Carl: Lebenserinnerungen. Hamburg 1918, S. 43-57.
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