Unvermutetes Wiedersehen meiner Mutter und meines Bruders Heinrich

[43] Am zweiten Pfingstfeiertage 1774, als ich mich früh bei herrlichem Wetter vor die Hintertür des Gartens gesetzt hatte und in Gottes freie Natur blickte, hörte ich plötzlich die Stimme Heinrichs, meines ältesten Bruders, und als ich mich umsah, erblickte ich ihn und meine Mutter, die mit weinenden Augen auf mich zukam und mir entgegenrief:[43] »Sohn, bist du es, oder ist's dein Geist?« War es Freude, Überraschung oder Schreck, ich vermochte kein Wort zu antworten und stierte in die Welt hin, bis meine Pflegemutter mich anregte und frug: »Nun, Christoph, freust du dich denn nicht über deine Mutter und deinen Bruder? – Heiße sie doch willkommen!« – Da wurd ich weich, und wir alle sanken uns wehmütig weinend in die Arme. Nach und nach wurden wir gesprächig, und die Mutter begann folgende Erzählung:

»Du weißt, daß dein Vater zu mir kam, um mich und deine Geschwister in dieses Land abzuholen. In den ersten Augenblicken des Wiedersehens würdigte ich ihn kaum einer Antwort, eines Blicks, endlich frug ich nach euch. ›Deine Kinder sind wohl versorgt‹, sagte er, ›ich habe Brot für dich und sie gefunden!‹ – ›Ich kann mir's denken‹, erwiderte ich, ›mein Vermögen hast du durchgebracht, mich mit drei Kindern in der größten Dürftigkeit verlassen, und den armen Christoph und Simon wirst du in die Sklaverei verkauft haben! Willst du vielleicht mich und deine übrigen Kinder auch verkaufen? – Geh, ich mag nichts mehr von dir wissen; du sollst mich nicht noch denen entreißen, bei welchen ich bisher Trost und Unterstützung fand; ich will deiner vergessen, wie du meiner und deiner Kinder vergessen hast!‹ – Diese Worte mochten ihm durch die Seele gehen; ich sah, wie tief sie ihn erschütterten und kränkten, und in wilder Verzweiflung rief er aus: ›Wie? einer so niederträchtigen, abscheulichen Tat solltest du mich fähig halten? Unmöglich, nein, so tief bin ich noch nicht gesunken!‹ – ›Gut‹, rief ich, ›beweise mir es, wenn ich dir glauben soll!‹ – ›Das will ich‹, erwidert' er und schrieb dir den Brief, auf welchen von dir und dem Herrn von Schult eine Antwort kam. Ich erkannte deine Schriftzüge, wurde weich und entschloß mich endlich zur Mitreise. Ehe wir das Entbehrliche verkauften und die nötigen Reisebedürfnisse anschafften, verstrichen einige Wochen. Dies meldete ich dir in einem Briefe. Endlich machten wir uns auf den[44] Weg. Schon die ersten Tage hatten wir mit unserm Fuhrwerk Anstoß, weil der Wagen überladen war; mehrere Male wurde derselbe umgeworfen, und da späterhin schlechtes Wetter einfiel, welches die Wege verdarb, so erlag das Pferd endlich der Last und krepierte. Was sollten wir nun machen? Ich wollte wieder umkehren und hätt es getan, wenn ich gewußt hätte, daß kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt war; aber die Liebe zu euch machte, daß ich endlich dem Bitten deines Vaters nachgab und mich zur Weiterreise entschloß. Aber was war das für eine Reise! wenn ich noch daran denke, so weiß ich nicht, ob ich darüber weinen oder lachen soll. Der Wagen war verkauft und dafür ein Packesel angeschafft worden. Denke dir den Zug: Der Vater führte, mit einem Pack auf dem Rücken, den Esel voran, welcher von beiden Seiten bepackt war. Auf jeder Seite saß eins von deinen jüngsten Geschwistern; hinter dem Esel folgte dein gleichfalls bepackter Bruder Heinrich und hinter ihm ich mit einem schweren Korbe. Man konnte uns in diesem Aufzuge für eine wandernde Zigeunerbande halten! – Schon hatte sich der Esel mehrere Male unterweges niedergelegt, wenn es ihm gefällig war, sich auszuruhen; aber in der Gegend von Lüneburg, bei Ülzen, wär es beinahe um mich und deine beiden jüngsten Geschwister geschehen gewesen. Eben ging ich über einen Steg, als sie und dein Vater plötzlich hinter mir schrien: ›Esel – Esel!‹ Als ich mich umsah, legte sich der Esel eben mit dem ganzen Gepäck ins Wasser, um sich abzukühlen. Dein Vater sprang ins Wasser und hatte kaum noch soviel Zeit, die Kinder zu retten und die Bagage herauszuziehen. Der Schreck über diesen Vorfall wirkte so heftig auf meinen von Kummer und Sorge geschwächten Körper, daß ich im nächsten Orte bettlägerig krank wurde und wir stille liegen mußten. Hier schrieb dein Vater nach Bresahn und meldete sogleich, daß wir schon bis nach Artlenburg vor Lauenburg gekommen wären und den 26. Juni nach Dargow kommen[45] würden, ihr solltet uns entgegenkommen. Als er den Brief besorgt hatte, kam er ganz zerstört zurück, ohne mir die Ursach davon zu entdecken. Ich merkt es ihm an, daß er etwas auf dem Herzen habe, das er mir zu verheimlichen suche. So schwach ich auch noch war, so mußt ich mich doch am andern Morgen zum Wiederaufbruch bequemen. Auf der Anhöhe bei Seedorf drang auf einmal Glockengeläute in unsre Ohren; dein Vater tat einen lauten Schrei, fiel zu Boden und rief: ›Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht!‹ Erschrocken frug ich ihn: ›Mann, was ist's mit dir?‹ – Nach einer langen Pause sagte er endlich, dies Geläute habe sein Herz ergriffen; ›unser Simon ist gestorben, gewiß wird man ihn eben begraben!‹

Wir alle brachen nun in ein trauriges Schluchzen und Wehklagen aus und konnten nicht von der Stelle kommen. Erst spätnachmittags trafen wir in Dargow bei Bresahn, unserm jetzigen Wohnplatz, ein und wurden freundlich von den Bewohnern bewillkommt, nur nicht von dir und deinem unglücklichen Bruder. Um sich und mich zu beruhigen, hatte dein Vater deinen jetzigen Aufenthalt ausgekundschaftet und kam mit der Nachricht zu mir, daß du in Zarrentin bei guten, rechtlichen Leuten, aber etwas krank wärest. Hätt ich bloß meinen mütterlichen Gefühlen folgen können, so würd ich mich sogleich auf den Weg nach dir gemacht haben, aber die häufigen Schläge, die mich hintereinander getroffen hatten, warfen mich selbst auf das Krankenlager, von dem ich erst vor drei Tagen wieder erstanden bin. Nun konnte mich nichts mehr zurückhalten, dich aufzusuchen, in der Absicht, dich mit mir zu nehmen, wenn ich dich fände. Dein Vater treibt Administrationsgeschäfte auf der Holländerei; uns ist ein Stück Land angewiesen, das wir aber selbst bearbeiten müssen; Wiesewachs haben wir für zwei Kühe; wir können Schweine und Federvieh, auch sechs Schafe halten, für welche wir freies Futter bekommen; an Körnern erhalten wir zwölf Scheffel Korn[46] und sechs Scheffel Sommerfrucht. Hierzu freie Wohnung, Holz und fünfzig Taler bare Besoldung gerechnet, glaube ich schon, daß wir unser gutes Auskommen haben werden; aber dennoch kann ich mein Vaterland und den Verlust des guten Simon nicht vergessen. In der traurigen Notwendigkeit, bei einem jähzornigen, leichtsinnigen Manne und unter Menschen zu leben, deren Sitten mir ebenso unbekannt als ihre Sprache sind, bleibt mir kein Trost als die Gegenwart und Liebe meiner Kinder, zu deren Besten ich mich von meinem Vaterlande losgerissen habe und so weit hieher gegangen bin.«

Da meine Pflegemutter nur wenig von der Sprache meiner Mutter verstand, so mußte ich ihr von Zeit zu Zeit die Erzählung derselben verdolmetschen. Als ich an die letzte Stelle kam, sagte sie: »Also willst du uns wieder verlassen? – Wir meinten es gut mit dir und hätten dich gern behalten, da wir selbst kinderlos sind.« Herr Bostel kam auch dazu und meinte, die Mutter könnte mich wohl bei ihnen lassen, ich sollte es so gut haben, als ob ich ihr Kind wäre! Diese Äußerung bestimmte mich, geradehin zu erklären, daß ich nicht mitgehen, sondern dableiben wolle. Die bisherige Behandlung dieser guten Leute war so himmelweit von der aufbrausenden Heftigkeit meines Vaters unterschieden, daß mir die Wahl, welche man mir freistellte, nicht schwer wurde. Meine Erklärung schien der Mutter nahezugehen; als sie aber sah, daß ich darauf beharrte, so drang sie weiter nicht in mich und nahm, nach zweitägigem Aufenthalt, wenigstens die beruhigende Überzeugung mit sich, daß ich noch lebe und gut aufgehoben sei.

Beim Abschiede versprach mir mein Bruder, daß er mir von Zeit zu Zeit Nachricht geben wolle, wie es zu Hause gehe, und so wurde mir die Trennung nicht schwer.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 43-47.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
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