Neuer Besuch meiner Mutter und meines Bruders

[54] Ich saß eben wieder an der Hintertür des Gartens auf einer [von] mir selbst angelegten Rasenbank, als sie mit meinem Bruder auf mich zukam und teilnehmend begrüßte. Mein Anblick mußte sie entsetzen, denn sie rief weinend aus: »O gerechter Gott, womit hab ich es wohl verschuldet, daß ich all meine Kinder auf eine elende Art verlieren soll? Es ist doch ein wahres Kreuz!« Indem kam die Frau Bostel, welche sie bewillkommte und ins Haus führte. Langsam schlich ich mit meinem Bruder dahin ihr nach. Der Schmerz meiner Mutter war unbeschreiblich, und alle Versicherungen, daß meine Pflegeeltern alles Mögliche täten und ferner tun würden, um meine Gesundheit wiederherzustellen, konnten sie nicht beruhigen. Vergebens zeigte ich ihr eine Büchse voll Latwerge, welche mir die Frau Bosteln gegeben habe. »Ach«, sagte sie, »ich glaubte Freude an dir zu erleben und muß dich nur beklagen!« – Sie bestand darauf, daß ich ihr nach Hause folgen solle, und wollte deswegen eine Fuhre bestellen, als ich aber mich standhaft weigerte und ihr sagte, daß mein Rücken seit meinem halbjährigen Aufenthalte bei Bostels keinen Stock gefühlt hätte, welchem er zu Hause fast täglich ausgesetzt gewesen wäre, so ließ sie ab, ferner in mich zu dringen, und willigte endlich in mein Dableiben.

Wir blieben abermals zwei Tage zusammen, während welcher Zeit wir einander unsre wechselseitigen Schicksale erzählten. Sie sagte mir, daß sie sich noch immer über den Verlust meines Bruders Simon nicht zufrieden geben könnte und daß der Vater ihr neuen Anlaß zur Klage gebe. Obgleich seine jetzige Einnahme nicht erlaube, großen Aufwand davon zu bestreiten, so verlange er doch Leckerbißchen, und wolle sie Ruhe haben, so müsse sie sich in seine Launen fügen. »Und seine Hitze ist ohne Grenzen«, sagte mein Bruder, »denn eines zerbrochenen[54] Eies wegen hat er mich neulich fast zu Tode geschlagen!« – »Und mich mit«, fiel die Mutter ein. »Denke dir nur«, fuhr mein Bruder fort, »wie weit sein Jähzorn geht. Er hatte mir ein neues Klavier gekauft und gab sich eben damit ab, mir es, wie gewöhnlich, zu stimmen. Auf einmal ließ unser Rotkehlchen, das auf einem Stengelchen über ihm saß, einen Teil seiner Verdauung auf seine Hand herabfallen. Darüber wütend, schlug er mit dem Stimmhammer nach dem Vogel, welcher etwas gestreift wurde und an den Boden fiel. Zum Unglück war die Katze in der Stube, diese fuhr zu, packte den Vogel und flüchtete mit ihm unter das Bette. Ergrimmt sprang der Vater auf, ergriff einen Stock, störte damit die Katze unter dem Bette hervor und versetzte ihr einen solchen Schlag auf den Kopf, daß sie tot zur Erde fiel. – Nach dieser Exekution setzte er sich wieder an das Klavier, um es zu stimmen, aber bald fiel ihm die Brille von der Nase, bald sprang eine Saite, worüber er so außer sich geriet, daß er mit den Fäusten darein schlug und das ganze Klavier unbrauchbar machte.«

Diese Erzählungen waren eben nicht geeignet, mir Sehnsucht nach Hause einzuflößen, und indem ich dagegen die gute Behandlung verglich, deren ich mich bei meinen Pflegeeltern erfreute, nahm ich mir zugleich vor, getreulich bei ihnen auszuhalten und mich der Landwirtschaft zu widmen.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 54-55.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers