Besuch der Eltern in Camin

[60] Da ich völlig wieder gesund war und die beiden Pferde Bostels zur Abräumung der Brandstätte zu Zarrentin gebraucht wurden, so hatt ich in der Caminer Flur, die sich auf zwei Stunden weit erstreckte, von früh an bis zu Sonnenuntergang nur zwei Ochsen und zwei Kühe zu hüten, mit welchen ich gewöhnlich an die entferntesten, aber besten Weideplätze trieb, um daselbst meinen Launen in der Stille nachhängen und ungestört in den Schulbüchern[60] studieren zu können, die ich gewöhnlich in meinem Brotsacke bei mir führte.

Ich hatte ganz eigne kindliche Ideen; der Klang der kleinen Glöckchen, welche die weidenden Rinder und Kühe an den Hälsen trugen, war für meine Ohren das lieblichste Konzert; mit Wohlgefallen sah ich dem behaglichen Umherwandeln dieser Tiere zu und wähnte, indem ich meine Schicksale zum vergleichenden Maßstabe nahm, daß diese Tiere an der offenen Tafel der Natur freier und glücklicher wären als die Menschen. Je mehr ich diesem Gedanken nachhing, desto mehr Wahres schien mir darin zu liegen, und beinahe fing es an mich zu verdrießen, daß ich ein Mensch war; als ich darauf aber meine Gestalt mit der ihrigen verglich und schon darin den entschiedenen Vorzug des Menschen vor den Tieren erkannte, dann söhnte ich mich wieder mit dem Schicksal aus, welches mir noch obendrein den Vorzug der Vernunft und des Verstandes erteilt hatte, durch den er sich zum Herrn der Tiere und aller Erdengüter machen kann, welche das Leben verschönern. Einst war ich in ähnliche Betrachtungen versunken, als ich von weitem ein paar Leute auf mich zukommen sah; aber wie ward ich überrascht, als ich bei ihrer Annäherung in ihnen meinen Vater und meine Mutter erkannte, welcher mir freudig entgegenrief: »Gott grüß dich, lieber Sohn! – Bist du's wirklich, oder ist's dein Geist? Du lebst also wirklich noch! Ja, nun glaub ich's und will nun gerne sterben, da ich dich noch einmal wiedergesehen habe!« – »Ich auch«, sagte die Mutter, indem sie mich mit dem Vater in ihre Arme schloß.

Ich wußte nicht, wie mir geschah, als ich mich so liebevoll von meinen Eltern umfangen fühlte; wir alle vergossen Tränen der Wehmut und Freude, und die Stimme der Kindesliebe sprach lauter als jemals in meinem Herzen.

Erst als die ersten Ergüsse der Zärtlichkeit vorüber und wir ruhiger geworden waren, erfuhr ich die Ursach ihres[61] unerwarteten Besuchs. Die Rede Bostels, daß ich allein zu Hause und krank gewesen sei, als das Feuer herausgekommen wäre, und seine Vermutung, daß ich wahrscheinlich verbrannt sein müsse, da ihre Nachforschungen nach mir vergebens gewesen wären, hatte sich wie ein Lauffeuer allenthalben verbreitet und war auch am zweiten Tage als eine Gewißheit zu den Ohren meiner Eltern gekommen. Beide hatten sich daher schleunigst auf den Weg nach Zarrentin gemacht, um von der Wahrheit oder Falschheit dieses schrecklichen Gerüchts Erkundigung einzuziehen.

Als sie auf der Brandstätte meines Pflegevaters angekommen waren und niemanden daselbst angetroffen hatten, fingen sie an, dem Gerüchte Glauben beizumessen, um so mehr, da einer von den Abgebrannten selbst dem Gerüchte beigepflichtet hätte, daß ich verbrannt sein müsse, weil ich beim Ausbruch des Feuers ganz allein zu Hause und krank gewesen wäre.

Schon wäre der Vater in bittere Klagen und die Mutter, die aus einer Ohnmacht in die andere gefallen, in laute Vorwürfe gegen sich selbst ausgebrochen, daß sie mich nicht gleich krank mit sich genommen hätte, als ein anderer Mann ihnen gesagt habe, daß ich wahrscheinlich mit Bostels nach Camin gegangen wäre. Auf diese Vermutung hatten sich meine Eltern unverzüglich auf den Weg gemacht und in Camin erfahren, daß ich auf der Weide sein müsse, wo sie mich zu ihrer Freude wirklich gesund und wohlbehalten trafen.

Wir unterredeten uns noch eine geraume Zeit. »Wie glücklich könnten wir insgesamt sein, wenn dein Vater das Glück häuslicher Ruhe nicht seinen verunglückten Spekulationen vorgezogen und euch und mich in die Welt unter fremde Menschen gespielt hätte; unser Simon lebte gewiß noch!« – »Wer weiß«, sagte ich, »wozu es gut ist, daß mich Gott frühzeitig schon so vieles Kreuz und Unglück erfahren ließ!« – »Es ist möglich«, erwiderte die Mutter, »vielleicht sollte durch diese Unglücksfälle[62] meine und deine Standhaftigkeit geprüft und dein Vater gebessert werden.« Dem Vater traten die Tränen in die Augen, die Mutter wurde weich, und aus meinem Herzen schwand aller Groll, den es bisher gegen meinen Vater gehegt hatte. Die Natur der Eltern- und Kindesliebe feierte hier einen feierlichen Triumph und fügte unsre Hände unter Gottes freiem Himmel zum Versöhnungsbunde ineinander. – Sooft ich, noch jetzt, an diesen Auftritt denke, wird mir es weich ums Herz, und ich muß weinen!

Endlich trugen mir meine Eltern an, daß ich forthin bei ihnen leben sollte und ihnen sogleich nach Hause folgen möchte. Ich sagte ihnen, daß dieses wohl nicht angehen würde, weil mich meine Pflegeeltern eben nötig brauchten; es wären all meine Sachen mit verbrannt, wofür ich neue bekommen würde; überhaupt aber hätt ich mich an die Landarbeit gewöhnt und sie liebgewonnen, sie möchten mich daher bei meinen Pflegeeltern lassen.

Meine Eltern taten alles, mich zu überreden, als aber mein Vater endlich sah, daß ich auf meiner Weigerung beharrte, so sagte er: »Nun wohlan, so bleib denn in Gottes Namen!« – »Halte dich wohl und ehrlich, liebes Kind«, schluchzte die Mutter, »und denke, daß Gott das Gute belohnt und das Böse bestraft.« – »So lebe wohl, mein Sohn«, sagte der Vater, indem er mich mit tränenden Augen an sein Herz drückte, »lebe wohl und sei versichert, daß wir für deine Wohlfahrt sorgen werden.« – »Du bist nun bald dreizehn Jahr alt«, sagte die Mutter, indem sie mich gleichfalls in ihre Arme schloß, »du weißt das Gute von dem Bösen zu unterscheiden, wähle stets das Gute und erhalte dir ein reines Gewissen! – Lebe wohl!« Nach diesem herzlichen Abschiede gingen sie wehmütig von mir, und bald waren sie mir aus den Augen; aber ihre guten Lehren blieben mir von diesem Augenblicke an tief ins Herz gegraben.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 60-63.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der deutsche Gil Blas
Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers