Lebensart in Camin

[64] So sehr mich die plötzliche Erscheinung meiner Eltern überrascht hatte, so war es mir doch, nach ihrem Abschiede, lieb, sie gesprochen zu haben, weil ich mich nun für berechtigt hielt, mich meiner Neigung zum ländlichen Leben ganz hinzugeben.

Bald entwickelte sich in mir das Talent zu Verfertigung mechanischer Arbeiten, wodurch ich mir bald nicht nur angenehm die Zeit und den Schlaf vertrieb, sondern mir sogar manchen kleinen Verdienst erwarb. Ich fing an zu schnitzen, machte hölzerne Vogelbauer, Rechen, Körbchen und Schalmeien, die ich mir aus Rohr oder Baumrinde verfertigte und bis zu dem Augenblicke blies, bis ich mir eine ordentliche Schalmei kaufen konnte. Um diesen Zweck zu erreichen, verkaufte ich meine Schnitzereien. Da aber der Erlös daraus nicht gleich zureichte, so suchte ich Vogelnester auf und verkaufte Vogelköpfe, weil man auch in dortiger Gegend die sinnlose Abgabe zum Besten des Ungeziefers eingeführt hatte, Sperlings- und andere Vogelköpfe als Barsteuer abliefern zu müssen. Da ich für den Kopf einen Dreiling oder anderthalb Pfennige bekam, so war ich bald imstande, mir eine Schalmei anzuschaffen. – So mußte ein Fehler in der Staatshaushaltung dazu dienen, die Entwickelung meines musikalischen Talents zu befördern, indem ich mich mit solchem Eifer auf dieses Instrument legte, daß ich in kurzer Zeit alles blasen konnte, was ich wollte.

Neben diesem Instrumente hatt ich mir eine ganze Oktave kleiner Glöckchen gekauft, die ich mit Hämmerchen schlug und welche auf das lieblichste klangen. Diese acht Glöckchen trug ich beständig bei mir. Hatt ich mich eine Zeitlang mit der Schalmei unterhalten, so zog ich – zur Abwechslung – meine Glöckchen hervor, steckte sie an einen Bügel und sang dazu: »Sei zufrieden, mein Gemüte« – oder »Freu dich sehr, o meine[64] Seele!« – »Was Gott tut, das ist wohl getan!« – »Bleib fromm und halt dich allzeit recht«, und dergleichen Lieder mehr, die ich alle auswendig wußte.

Von dieser Zeit an war ich selten mehr allein; täglich hatt ich Gesellschaft und war gleichsam der Heerführer aller Hirten; denn wohin ich zog, dahin zogen alle andern mir nach, oder es wurde abends verabredet, wo wir den andern Tag zusammenkommen wollten. – Was ich von Lebensmitteln nicht hatte, das teilten die andern mit Freuden mit mir, und so verstrich mir der zweite Sommer so angenehm, daß ich das liebe Hirtenleben als das glückseligste Leben auf der Welt ansah und noch jetzt als die glücklichste Epoche meines Lebens betrachte. In kurzer Zeit war ich nicht nur der Liebling meiner Kameraden, sondern auch aller Dorfbewohner; denn wenn ich aus- oder eintrieb und heiter hinter meinem Vieh herging, da lobte man mich und erwiderte freundlich meinen Gruß. Hatt ich meinen Bügel angehängt und akkompagnierte mir zu meinem Gesang, da umstellte mich oft alt und jung und gab mir Beweise seines Beifalls. Es schien fast, als ob mir Gott einmal doch einen vergnügten Sommer geschenkt hätte, um mir Kräfte zu den mir bevorstehenden neuen Unglücksfällen zu verleihen, denn mit dem Sommer ging auch mein Vergnügen zu Ende. Das Haus meiner Pflegeeltern wurde an einer andern Stelle wieder aufgebaut, und nun kehrt ich mit ihnen von Camin nach Zarrentin zurück, um ihnen in der Ernte beizustehen.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 64-65.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers