Abfahrt von Hamburg

[86] Unsere Fahrt ging nicht gut vonstatten, denn die Elbe trieb schon viel Grundeis. Kaum waren wir drei Stunden lang unter Angst und Frost bis in die Gegend von Buxtehude gefahren, so äußerte der Schiffer, es wäre ihm unmöglich, wegen der Gefahr des Grundeises heute nach Stade zu schiffen, er müsse versuchen, irgendwo zu landen. Endlich gelang es ihm unter großer Gefahr, unweit Cranz ans Ufer zu kommen. Da wir schon im Begriff zu landen waren, stießen die Wellen so heftig wider das Schiff, daß ich über Bord gefallen wäre, wenn ich mich nicht glücklicherweise noch an einem Tau angehalten hätte, denn schon war mir der Hut vom Kopfe ins Wasser gefallen. Um ihn nicht einzubüßen, ergriff ich einen Schiffshaken, sprang hurtig damit über Bord auf eine Eisscholle und schwamm darauf meinem Hute nach, um ihn zu erhaken. Als der Schiffer dies gewahr wurde, rief er aus vollem Halse: »Hö landet! landet!« Aber in einer Minute war ich schon über zehn Schritte weit vom Schiff abgetrieben und in großer Gefahr. Zum Glück wurd ich am Ufer einen Pfahl gewahr, hakte darnach und zog mich so ans Land, wo der Schiffer ankerte.

Der Verlust meines neuen Huts erpreßte mir die bittersten Tränen, und man hatte Mühe, mich zu über reden, daß es doch besser war, einen Hut als das Leben zu verlieren.

Während wir in den Krug oder das Wirtshaus gegangen waren, war das Eis so angeschwollen, daß wir nicht mehr an das Schiff zu unsern Sachen kommen konnten. Der Postbote sagte mir, daß das nichts zu bedeuten habe und es ihm schon öfters so gegangen wäre, unsre Sachen wären deswegen unverloren und würden wohlbehalten, auch ohne uns, nach Stade kommen, da der Schiffer erklärte, daß er unter zwei Tagen nicht weiterfahren könnte.[87]

Da der Briefbote sich nicht entschließen konnte, die Nacht da zu herbergen, so ging ich und das Kammermädchen mit ihm nach Stade zu. Vor Mitternacht ging die Reise leidlich; der Himmel war heiter, und ich wanderte neben der hübschen Kammerjungfer – die so vorsichtig gewesen war, ihr Päckchen aus dem Schiffe mit sich zu nehmen – mit einem Tuch auf dem Kopfe zufrieden unsre Straße; nach Mitternacht aber fing es an, stark zu schneien und so kalt zu werden, daß mir und dem leichtgekleideten Kammermädchen die Zähne klapperten. Wir baten daher den Boten, uns nach einem Wirtshause zu bringen; dieser gab uns aber zur Antwort, daß in der ganzen Gegend kein Dorf und kein Wirtshaus anzutreffen wäre. Das Mädchen mochte jammern und wehklagen, wie sie wollte, sie mußte sich entschließen, noch anderthalb Stunden weiterzugehen, ehe wir an einen Krug kamen, wo wir lange pochen mußten, ehe die Leute uns öffneten. Sie waren so artig, uns auf unsere Bitte eine warme Stube und eine Biersuppe zu machen, die uns trefflich erwärmte. Nachdem wir sie genossen hatten, legte sich der Bote auf die Bank, die Kammerjungfer aber in eine leere Kuse, um die Süßigkeiten des Schlummers zu genießen. Der Verdruß über den Verlust meines Hutes und der Gedanke, daß ich so unbesonnen gewesen war, nicht einmal nach dem Namen des Schiffers zu fragen, dem ich meine Sachen anvertraut hatte, ließen mich schlechterdings nicht schlafen. Ich hielt den Verlust meiner Sachen für entschieden und dachte mir, was für ein Aufsehen es machen würde, wenn ich ohne Hut und ohne alles Gepäck einwanderte; es war mir daher sehr angenehm, als der Bote sich um fünf Uhr erhob und gegen uns erklärte, daß er um sieben Uhr in Stade eintreffen müßte. Ich war gleich bereit, ihm zu folgen, und da das Kammermädchen sich durch zweistündigen Schlaf gestärkt fühlte, so brachen wir zusammen wieder auf.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 86-88.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der deutsche Gil Blas
Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers