Menschenkenntnis.

[1] »Erkenne Dich selbst!« Ein weises Sprichwort fürwahr, und dennoch – wie wenige vermögen sich selbst zu erkennen. Wie aber soll man den geistigen Wert anderer schätzen, wenn man sich selbst seines eigenen Wertes oder Unwertes nicht bewußt ist? Ein Mensch, der andere beurteilen will, ohne sich selbst zu kennen, ist wie ein Blinder, der von der Farbe, ein Tauber, der von der Musik redet, sein Urteil wird nicht einseitig, individuell aufgefaßt, nein, es wird immer ein gradezu falsches sein! Darum gehe zunächst in Dich selbst, auf daß Du Dein eigenes Ich einmal kennen lernst, das Studium des eigenen Charakters ist nicht ganz so uninteressant, als mancher glauben mag.

Wenn man auch nur ein wenig Beobachtungsgabe besitzt, so wird man zunächst die Eigenschaften anderer zu entdecken suchen, man wird ermitteln, auf welche Weise sie von einem Vorkommnis berührt werden, und aus dem Unterschiede, welcher sich aus der Anwendung auf uns selbst und auf andere ergiebt, sich eine, in ihrem Werte nicht zu unterschätzende Menschenkenntnis aneignen.

Zur Menschenkenntnis gehört ferner eine gewisse Fähighigkeit, aus der Physiognomie anderer auf deren Charakter[1] mit ziemlicher Sicherheit einen Schluß zu ziehen, und es gibt Leute, welche es in dieser Kunst bis zu einer erstaunlichen Fertigkeit gebracht haben.

Wenn man mit jemandem zum ersten Male zusammen kommt, so wird sich jeder zweifellos ein eigenes Urteil über dessen Person bilden, und zwar wird dieses ein dreifach verschiedenes sein können: Man empfindet entweder Sympathie (Zuneigung) oder Antipathie (Abneigung) gegen den Betreffenden, eine dritte Möglichkeit, welche jedoch die seltenere ist, ist die Gleichgiltigkeit, mit der wir einfach den mit uns bekannt Gewordenen im selben Augenblick wieder vergessen.

Im Laufe weiteren Umganges wird sich nun darin manches ändern können; die Person, deren Bekanntschaft wir gemacht haben, kann gewinnen oder verlieren; bleibt aber das Gefühl das nämliche, so kann es sich noch in verschiedenen Graden steigern, aus der Sympathie wird Freundschaft, aus der Antipathie Feindschaft, wie aber die Freundschaft eine Verstandestätigkeit ist, so wird diese, sobald das Herz dabei mitwirkt, zur Liebe, wie umgekehrt die Feindschaft zum Haß wird.

Zur Erkennung eines Menschen hat die Natur selbst die Hand geboten. Ist nicht das stumme Wort, welches das Auge spricht, die beredteste Sprache, sagt nicht ein einziger Blick oft mehr, als tausend Worte auszudrücken vermögen? Sagt uns nicht oft ein Zug im Gesichte unseres Mitmenschen, welche Vergangenheit er erlebt; läßt uns nicht das nur flüchtige Lächeln, das seinen Mund umspielt, auf einen seinerseits gewonnenen Eindruck, oder läßt uns nicht eine einfache Bewegung seiner Hand auf irgend eine seiner Absichten schließen? Nun wohl, so studiere man diese, lasse sich aber auch nicht täuschen, denn die Erfahrung ist zwar eine gute, aber teure Schule! Es gibt Menschen mit einem marmorähnlichen Gesicht, und wenn du mit ihnen redest, so wird kein Zucken der Augenwimpern verraten, was in ihrem Innern vorgeht. Sie haben die Worte nur, um ihre Gedanken zu verbergen, – die Welt nennt solche Leute Diplomaten – im Grunde genommen sind sie bessere Schauspieler, als diejenigen, welche ihre Künste öffentlich und für Geld produzieren.[2]

Ein ganz gewöhnlicher Grad von Menschenkenntnis liegt z.B. darin, daß schon jeder Lehrling oder Gehilfe im Stande ist, wenn der Prinzipal auch noch nicht mehr als nur »guten Morgen« gesagt hat, zu beurteilen, ob dieser bei »Laune« ist, oder nicht.

Wenn aber schon das einfache Erkennen im Seelenleben anderer äußerst interessant ist, wieviel mehr sind es nicht die Folgerungen, welche hieraus zu schöpfen sind.

Wir lernen einsehen, was sich mit Gewißheit von anderen zu unserem Besten erwarten läßt. Wir werden durch diese Kenntnis vorsichtig gemacht, und wissen die Sprache des Mundes von der des Herzens zu unterscheiden.

Würde nicht manch' unbedachtes Wort unterbleiben, wenn wir vorher die unwillige Miene desjenigen, mit dem wir gesprochen, bemerkt hätten?

Wie manches Anliegen wird abgeschlagen, weil es zur unrechten Zeit angebracht worden ist, wie manche trübe Stunde könnte man sich und anderen ersparen, wenn man seinem Mitmenschen das von den Mienen abgelesen hätte, was sein Mund nicht sagen konnte oder wollte!

Darum ist eine wesentliche Bedingung zum gesellschaftlichen Umgange, sich Menschenkenntnis zu erwerben, was eben nur durch eine aufmerksame Beobachtung unserer eigenen Person und anderer erreicht werden kann.

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 1-3.
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