Charakter

Charakter.

[38] Der Charakter hat seinen Sitz in dem Wollen, nicht aber in den Launen und wandelbaren Wünschen, sondern in dem[38] Gleichförmigen, Übereinstimmenden und Festen des gesamten Wollens.

Der feste Wille hat in dem Selbstvertrauen seinen Ursprung. Die Hauptaufgabe der Erzieher besteht also zunächst darin, im Kinde Selbstvertrauen zu erwecken und zu stärken. Man schelte nicht gleich die Kinder dumm und unnütz, wenn ihnen eine Arbeit nicht nach Wunsch gelingt. Die Abschwächung des Selbstvertrauens ist die Folge. Man helfe ihnen vielmehr, das gesteckte Ziel zu erreichen. Würde man ihnen aber durch viele Hülfe die Arbeit zu leicht machen, so würde ebenfalls keine Kräftigung des Selbstvertrauens eintreten. Falsch wäre es, Kindern geistige Arbeiten zuzumuten, die weit über ihren Horizont gehen, oder von ihnen körperliche Anstrengung zu verlangen, denen ihre Kräfte nicht entsprechen; das Selbstvertrauen würde geschwächt werden.

Die Eltern selbst zeigen festen Willen. – Um nicht mit sich selbst in Konflikt zu kommen, verlangen sie von den Kindern nichts, was nicht wohl überlegt und auch durchführbar ist. Das Bestehen auf ihrer Forderung ist für die Willensbildung der Kinder von hohem Werte. Niemals sollen sich die Eltern durch Bitten der Kinder von ihrem wohlbedachten Entschluß abbringen lassen. Im Verkehr mit den Geschwistern und Spielgenossen bietet sich viel Gelegenheit zur Übung des festen Willens. Man schärfe den Kindern ein, nicht gleich nachzugeben, seine Meinung zu verteidigen und nur zu weichen, wenn die Überzeugung gewonnen ist, daß das Recht auf der andern Seite liegt. Eigensinn und Trotz dürfen nicht mit festem Willen verwechselt werden. Auch bei der Arbeit heißt es, den Willen festigen. Murrt der Sohn über die schwere Aufgabe oder hat die Tochter die Absicht, eine begonnene Arbeit unvollendet zu lassen, ermuntert sie, ermahnt sie, zwingt sie zum Ausharren bei der Tätigkeit bis zum Ende. Eltern und Kinder beide finden in dem Bewußtsein, Ausdauer gezeigt, in einem Kampfe gesiegt zu haben, ihren Lohn; die Kinder aber besonders in der ihnen noch unbewußt bleibenden Stärkung des Willens.

Wenn der eigene Wille des Kindes gestärkt werden soll, kann es dann einen Gehorsam geben? Wohl! Der Erzieher[39] beherzige aber die Mahnung, seine Forderungen wohl zu überlegen, damit seine Gehorsamsforderung nicht mit dem Verstande seines Zöglings in Widerspruch gerät. Menschen, die kein Selbstvertrauen haben, können sich nicht hindurchringen, für ihr Wollen und Handeln bestimmte, oberste Grundsätze zu schaffen. Die Folge davon ist Unentschiedenheit, Unentschlossenheit und Zerfahrenheit des Wollens, die eine Zerrissenheit des Gemütes zur Folge haben. Der charaktervolle Mensch schafft sich aus der Überlegung und praktischen Erfahrung Grundsätze, die für sein Denken und Wollen die Richtschnur bilden. Diese höchsten Grundsätze geben für sein Sinnen und Handeln das Ziel an. Der Charakter besteht somit in der Unterordnung des gesamten Wollens und Handelns unter die durch das Leben gewonnenen und durch Nachdenken gereinigten und geläuterten obersten praktischen Grundsätze.


Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 38-40.
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