Die Artigkeit.

[116] Ist der Begriff des Anstandes ein in der ganzen zivilisierten Welt allgemein gleichbleibender, der der Höflichkeit ein jeweilig nationaler, so entspringt die Artigkeit aus der gleichzeitigen Befolgung der internationalen Gesetze des Anstandes und der nationalen Höflichkeitsregeln.

Die Artigkeit sucht der Höflichkeit zuvor zu kommen. Die Höflichkeit tut was sie soll, was sie nationaler Sitte gemäß tun muß, die Artigkeit tut, was ihr gut erscheint, was ihr aus Anstand und Höflichkeit zu entspringen dünkt.

Selten ist ein Mensch artig, der nicht auch zugleich anständig und höflich wäre.

Ein anständiger Mensch, der nicht auch zugleich höflich und artig wäre, würde keine Freunde, sondern nur Feinde, oder höchstens ihm gleichgiltig Gegenüberstehende haben, während man sich durch Artigkeit zweifellos Wohlwollen und Freundschaft erwirbt.

Um anständig zu sein, braucht man sich nicht in die Welt hinaus zu begeben, man kann auch anständig gegen sich selbst sein. Derjenige, der nur seinen Anstand zeigt, aber in seiner Behausung sich gibt wie er ist, – der ist oft nicht anständig. Höflich sei man gegen alle, die mit uns in Berührung kommen. Artig zu sein, da wo man es sein muß und erkennen können, wo man es zu sein hat, das ist eine Kunst, die noch mehr erlernt sein will als Anstand und Höflichkeit.[117]

Will man höflich sein, so braucht man nur die allgemein geltenden Gesetze zu beobachten, welche durch Herkommen und Sitte sanktioniert sind. Um artig zu sein, muß man die einzelne Person kennen, mit der man in Berührung kommt.

Die Befolgung der Regeln des Anstandes setzt man im gesellschaftlichen Umgang als selbstverständlich voraus, die der Höflichkeit erwartet man, befolgt zu finden, die Artigkeit gibt uns allein einen Vorzug und läßt uns vorteilhaft aus dem Gross der Übrigen heraustreten.

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 116-118.
Lizenz:
Kategorien: