[119] Zu allen Zeiten lag es in dem Volkscharakter begründet, daß die Menschen nicht allein ihren eigenen Weg zu gehen pflegten, sondern sich zu gemeinsamen Zwecken vereinigten. Wir finden dieses bereits bei den alten Griechen und Römern, deren mit der Geselligkeit eng verbundener, oder besser gesagt, deren Hauptzweck die Festgelage waren, und wir finden dieselbe Erscheinung noch heute bei unsern modernen Teegesellschaften.

Die Menschen sind nun einmal auf einander angewiesen, ergänzen sich gegenseitig und werden so zu einem harmonischen Ganzen.

Allerdings gab es auch zu allen Zeiten Ausnahmen von dieser Regel, Einsiedler, welche abgeschlossen von der Welt, nur auf sich selbst angewiesen, ein kümmerliches Dasein fristeten. – Noch heute ziehen sich einzelne Sonderlinge von ihren Mitmenschen zurück und leben nur für sich und ihre Gewohnheiten und Ideen.

Bei jedem Menschen, einerlei weß Geistes Kind er auch sei, macht sich das Bedürfnis nach Geselligkeit geltend, und je nachdem er der einen oder anderen Berufsklasse angehört, wird er sich einen für ihn passenden Umgang suchen.

Die Formen der Zusammenkünfte haben sich geändert, die Sitten verfeinert, der Geschmack veredelt.
[119]

»Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit

Und neues Leben blüht aus den Ruinen!«


Die lediglich auf Befriedigung der Bedürfnisse des Magens gerichteten Zusammenkünfte unserer Vorfahren haben einer idealeren Anschauung auch in Bezug auf geistige Bedürfnisse Platz gemacht, und seitdem man nicht allein – wie bei den Alten – die Männer an den Festgelagen teilnehmen ließ, sondern im Mittelalter bereits anfing, Frauen und Jungfrauen einen Platz einzuräumen in der Gesellschaft, ist die Roheit einer feineren Umgangsform gewichen.

In der Lage der gegenwärtigen Verhältnisse ist es begründet, daß wir einander aufsuchen, geschäftliche oder private Bekanntschaft führt uns zusammen, Geistesverwandtschaft rückt uns einander näher, Freundschaft verbindet uns.

Diesen verschiedenen Arten des Zusammenfindens der Einzelnen hat nun die Konvenienz eine bestimmte Form gegeben, welche innezuhalten uns Brauch und Sitte verpflichten.

Je nachdem die Gesellschaft aus einer größeren oder geringeren Zahl von Teilnehmern besteht, und der Zutritt leichter oder schwerer zu erlangen ist, unterscheiden wir die Privat-, die geschlossene und die öffentliche Gesellschaft.

Betrachten wir zunächst den kleinsten und exclusivsten Zirkel, die Privatgesellschaft, so kann diese wiederum je nach dem Zweck derselben in verschiedene Arten eingeteilt werden. Wir können hier Frühstücks-, Kaffee- und Teegesellschaft, die sogenannte freundschaftliche Zusammenkunft, den Klub und die eigentliche »Gesellschaft« unterscheiden. Einen Unbekannten resp. Fremden wird man wohl kaum einladen, am Frühstück teilzunehmen.

Anders ist es mit der Einladung zur Tafel.

Hat man zugesagt, so erscheine man pünktlich. Durch ein zu frühes Eintreffen würde man vielleicht die Mitglieder des Hauses in den zu treffenden Vorbereitungen stören, zu spätes Kommen sie verpflichten, artigkeitshalber auf uns zu warten. – Beides ist unangenehm.

Es ist unschicklich, sich gleich nach Schluß der Tafel zu entfernen.


Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 119-120.
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