II. Die Marquise von Pütiny.

Es war ein alter hagerer und steifer Herr, mit wohlfrisirtem Haar und spitzigem Zöpfchen, der im Jahr 1804 mit einer jungen, verschleierten Dame in das Paß-Büreau seiner Vaterstadt Hamburg trat und, seinen Bürgerbrief vorzeigend, für seine Begleiterin einen Paß nach Frankreich verlangte.

Da das Signalement aufgenommen werden mußte, bat ein junger, bei der Kanzlei angestellter Mann die Dame, ihren Schleier gütigst zurückschlagen zu wollen, was sie mit unübertrefflicher Grazie that. Dem jungen Manne wäre es vielleicht besser gewesen, wenn sie es nie gethan hätte, denn er stand, seines Amtes vergessend, wie bezaubert und festgebannt vor diesem himmlisch-schönen Gesichte, das sich ihm jetzt zeigte, und er schien mit einem solchen Pflicht-Eifer sein Geschäft[27] betreiben zu wollen, daß man weit eher einen Maler in ihm hätte vermuthen können, der der Leinewand die reizenden Züge anvertrauen wollte, denn einen das Signalement aufnehmenden Beamten des Paß-Büreaus.

– »Nun, mein Herr?« fragte endlich der alte Begleiter der Dame den entzückten Beamten, und in diesem »Nun?« lag deutlich die Frage: »Wollen Sie denn nicht endlich beginnen?« Die Dame aber war sichtbar verlegen, schlug die Augen nieder und erröthete.

Der junge Mann erwachte bei der Frage meines Stiefvaters – denn dieser war der Begleiter der Dame – wie aus einem entzückenden Traume, schob für Beide einen Stuhl hin, setzte sich der Dame gegenüber an seinen Schreibtisch und begann mit sichtbar zitternder Hand den verlangten Paß auszuschreiben, der, wie nachfolgt, ausfiel:

Name und Stand: – Frau Marquise von Pütiny.

Alter: – Zwanzig Jahre.

Kommt von: – F. in Holstein.

Reis't nach: – M. im südlichen Frankreich.

Gestalt: – Groß und schlank.

Haar: – Kastanienbraun und gelockt.

Stirn: – Hoch und frei.

Nase: – Klein und fein geschnitten.

[28] Augen: – Dunkelblau und groß.

Mund: – Klein.

Kinn: – Rund mit einem Grübchen.

Wangen: – Sanft gerundet.

Gesichtsfarbe: – Blühend, der Teint sehr weiß.

Gesichtsform: – Ein schönes Oval.

Besondere Kennzeichen: – Außerordentliche Schönheit. – u.s.w.

Der junge Mann überlas noch einmal, was er geschrieben hatte, verglich damit das Original und reichte dann der Dame den Paß mit zitternder Hand und einem tiefen Seufzer dar, damit auch sie ihn mit ihrer Namensschrift versehe, worauf er ihn besiegelte und ihrem alten Begleiter einhändigte.

– »Was habe ich zu bezahlen?« fragte der alte Kaufmann, in seine Tasche greifend und einige Geldstücke aus derselben hervornehmend.

– »O nichts, gar nichts!« stammelte der junge Mann.

– »Nichts? Sie scherzen, mein Herr!«

– »Ich bin für meine Mühe belohnt genug,« erwiederte der junge Kanzellist mit einem ausdrucksvollen Blick auf die Marquise. »Kommen Sie oft so wieder, Herr B., und ich fertige Ihnen einen solchen Paß jedesmal gratis aus.«

– »Ja so!« versetzte der alte Kaufmann lachend, jetzt erst in seiner großen Zerstreutheit die[29] Pointe fassend; »ja so, Herr ***, Sie wollen den Galanten spielen? Hier aber ist Geld, machen Sie sich für Ihre Mühe bezahlt, wir haben Eile.«

Der junge Mann nahm aber nichts und mein Stiefvater mußte sein Geld wirklich wieder einstecken. Zu Hause mit seiner schönen Begleiterin angekommen, erzählte er meiner Mutter, deren Freundin die Marquise war, das gehabte Abenteuer mit Lachen, und ergötzte sich noch lange an der Galanterie des jungen Beamten.

So sah die Marquise von Pütiny aus, die seit einigen Tagen unsere Hausgenossin war und sich darauf vorbereitete, nach Frankreich, zu ihrem sie dort erwartenden Gemahl zu gehen.

Wir Kinder betrachteten diese Frau, ihrer wirklich außerordentlichen Schönheit wegen, mit einer Art von Ehrfurcht, und nie sind wir stiller gewesen, nie gespannter, nie aufmerksamer auf jedes Wort, das bei Tische gesprochen wurde, als an den Tagen, wo die Marquise unsere Hausgenossin war; ja, ich glaube, meine Stiefgeschwister beneideten mich einigermaßen darum, daß sie gegen mich, die ich die rechte Tochter ihrer Freundin und ihr überdies von früher her schon bekannt war, sich zutraulicher und zärtlicher bezeigte, als gegen die andern, ihr im Grunde durchaus fremden Kinder.[30]

Das ganze Haus war gleichsam in einer Art von Bezauberung, die sich sogar auf die Dienerschaft erstreckte: so groß ist die Gewalt der Schönheit.

Endlich war der Tag der Abreise da, und wir Kinder empfanden einen wirklichen Schmerz, als sie uns mit ihrer süßen, melodischen Stimme ein Lebewohl zurief und beim Abschiede zu meiner in Thränen zerfließenden Mutter sagte: – »Werde ich glücklich in Frankreich und in meinen neuen Verhältnissen sein, so sollst Du bald von mir hören; sonst nicht.«

Wir hörten nie wieder etwas von ihr! –

Wohl hatte sie Ursache, sich vor der Zukunft zu fürchten, obgleich sie jetzt das Ziel ihrer Wünsche erreicht zu haben schien, indem sie endlich sich mit dem Manne unauflöslich verbunden sah, dem ihr Herz in glühender Liebe ergeben war. Sie, die Bürgerliche von Geburt, die geschiedene Frau, sollte jetzt das Mitglied einer der vornehmsten, adel- und rangstolzesten Familien des südlichen Frankreichs werden, das Mitglied einer jener Familien, die ihr Vaterland, ihren Stand, ihre Reichthümer, ihr zahllosen Besitzungen der Anhänglichkeit für die unglückliche Familie ihres Königs aufgeopfert hatten, und eine der ersten gewesen[31] war, die beim Ausbruch der Revolution auswanderten. Wie würde man sie in dieser Familie aufnehmen? Wie würde sie, die durch und durch eine Deutsche war, sich in Frankreich gefallen? Dies waren die Fragen, die sie sich vorzulegen hatte, und die sie mit Recht beunruhigten. Vielleicht lagen im Hintergrunde ihrer Seele noch andere, die sie mit noch bängern Besorgnissen erfüllten, und die sie sich selbst vorzulegen nicht einmal wagte: Würde der Mann, dem sie sich rücksichtslos hingegeben, dem sie Alles, ihre Pflicht, die Ruhe ihres Gewissens, Ehre, Ruf und guten Namen aufgeopfert, würde er diese Opfer zu würdigen wissen und sie jetzt dafür durch seine Liebe und Treue belohnen? Sie hatte ihm nichts mehr zu geben, da ihre Liebe ihm bereits Alles gewährt hatte: er war der Vater ihrer zwei im Ehebruch erzeugten Kinder!

Die frühern Schicksale dieser außerordentlichen Frau erfuhr ich in späterer Zeit aus dem Munde meiner Mutter und theile sie nachstehend mit, ohne fürchten zu müssen, eine Indiscretion dadurch zu begehen, da sie zu ihrer Zeit landeskundig waren und allgemein besprochen wurden.

Amalia, so hieß diese schöne Frau, war die Tochter eines Beamten in Holstein, der von[32] einer wenig einträglichen Stelle eine zahlreiche Familie zu ernähren hatte. Er war ein überaus strenger und herrischer Mann, vor dem Alles im Hause zitterte, einer von den Männern, an deren Seite man bleiche, verlebte, abgehärmte und vor der Zeit verblühte Gattinnen erblickt, während sie stolz und gebieterisch einhergehen; er war einer von den Vätern, denen sich die Kinder am Morgen mit niedergesenkten Blicken und hoch klopfendem Herzen nahen, um den Handkuß zu wagen und den Morgengruß zu sprechen; einer von den Vätern, die es für Sünde und Unrecht halten, auch nur die kleinste Regung von Zärtlichkeit gegen die von ihnen Erzeugten blicken zu lassen, und deren Ja man nie ein Nein entgegen zu setzen wagt.

Auch war Alles bedrückt und verstimmt in dem Hause, in dem Amalia, die schönste und frischeste Blume desselben, aufwuchs. Die Dienerschaft schritt so leife darin umher, als ob es einen Todten im Hause gäbe; die arme, immer bleicher und magerer werdende Mutter der Kinder athmete erst frei auf, wenn ihr Gatte Abends in den Clubb ging, um seine gewohnte Partie zu machen, von der sie ihn aber jedesmal mit Zittern zurückkommen hörte; denn war er nicht glücklich[33] im Spiel gewesen, so konnte es ihm Keiner recht machen. Die armen, verschüchterten Kinder wählten sicher immer die entlegensten Plätze im Garten zu ihren Spielen, damit der, zum Unglück für sie im Hause arbeitende Vater es ja nicht höre, wenn sie einmal lachten oder mit einander schäkerten.

Endlich erlag die arme Gattin ihrem Grame; der Kummer, ihr Schicksal an das eines solchen Mannes gekettet zu sehen, hatte wie ein Wurm an ihrem Herzen genagt und es endlich unter namenlosen Qualen gebrochen. Das Loos der armen verwaiseten Kinder war von nun an noch trauriger, indem sie durch den Tod ihrer guten, sanften, so herzlich von ihnen geliebten Mutter nicht nur ihre letzte Stütze verloren, sondern der Vater jetzt auch noch finsterer und herrischer, noch verstimmter als zuvor schon war. Vielleicht hatte er seine Gattin, trotz seines unfreundlichen Betragens gegen sie, doch geliebt; vielleicht aber auch machte er sich geheime Vorwürfe in Hinsicht ihrer; genug, es war jetzt mit diesem Manne gar kein Auskommen mehr, und die armen Kinder hatten keine andern glücklichen Stunden, als die, welche sie in der Schule zubrachten, wohin sie daher auch gern gingen.[34]

Amalia war das älteste dieser Kinder und verrieth schon früh, daß sie schön, vielleicht noch schöner wie ihre Mutter gewesen war, werden würde, und nicht nur durch diese äußern Vorzüge, sondern auch durch ihr sanftes, gutes Herz, durch ihre jugendliche Heiterkeit, die sie sich trotz der unglückseligen Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen war, zu erhalten gewußt hatte, und durch ihren Verstand nahm sie Alles für sich ein, was sich ihr nahete.

Der beschränkten Vermögens-Umstände ihres Vaters wegen wurde wenig Gesellschaft im Hause gesehen; nur einmal im Jahre gab es eine große Schmauserei, wozu sich eine Commission einfand, die die Cassen der Hebungs-Beamten zu untersuchen hatte; dieser zu Ehren wurde allemal ein Fest veranstaltet, bei dem Alles erschien, was Anspruch auf Auszeichnung im Städtchen machen durfte.

Es war nicht lange nach dem Tode der Mutter, als Amalia, die damals eben ihr sechszehntes Jahr angetreten hatte und in der vollen Blüthe ihrer Schönheit stand, die Honneurs bei einem solchen Feste machen mußte.

Es konnte nicht fehlen, daß eine solche Schönheit,[35] ein solcher Jugendreiz auffallen mußte; auch machte man ihrem Vater von allen Seiten Complimente über den Besitz einer solchen Tochter; Keiner aber that dies mit mehr Feuer und Begeisterung, als der siebenzig Jahr alte, unermeßlich reiche Herr von S., ein Mann, der außer seinem großen Vermögen auch noch eine sehr einträgliche und ehrenvolle Stelle besaß. Er schien seine Blicke nicht von Amalien abwenden zu können; er drängte sich, so oft es nur anging, an sie, um ihr Artigkeiten zuzuflüstern; er sah mit der lebhaftesten Unruhe auf seine beiden, gleichfalls anwesenden Söhne, Adam und Christian, deren Blicke und Benehmen nur zu deutlich verriethen, daß das bezaubernde Mädchen auch auf sie einen lebhaften Eindruck gemacht habe, und nach Tische, wo sich Alles in den Garten hinabbegab, nahm er Amaliens Vater allein und unterhielt sich eine ganze Weile mit demselben in einem abgelegenen Bosquet.

Als er wieder zur Gesellschaft zurückkehrte, strahlte sein Blick vor Freude, und er wagte es, der ihm den Kaffee präsentirenden Amalia verstohlen die Hand zu drücken. Diese sah ihn mit großen Augen und fast erschrocken über eine solche Zudringlichkeit an, wobei sie lebhaft erröthete; er[36] aber lächelte geheimnißvoll und nannte sie »sein süßes Kind.«

Dieses geckenhafte Betragen des Greises machte den unangenehmsten, ja, den widrigsten Eindruck auf das junge Mädchen, das von diesem Augenblick an geflissentlich vermied, in die Nähe des Herrn von S. zu kommen; dieser aber ließ sich keineswegs dadurch abschrecken, sondern setzte seine Bewerbungen um ihre Gunst mit der größten Beharrlichkeit fort, so daß sie von Herzen froh war, als die Gesellschaft sich endlich trennte.

Am andern Morgen, als sie dem Vater den Kaffee bereitete, welches Geschäft ihr seit dem Tode ihrer Mutter zugefallen war, sagte ihr Vater, von der Zeitung aufsehend, in der er bisher eifrig gelesen hatte, plötzlich zu ihr:

– »Du wirst Dich verheirathen, Amalia.«

– »Ich?« stammelte die Erschrockene.

– »Ja, Du,« versetzte der Vater mit Nachdruck, und nachdem er einige große Dampfwolken aus seiner Pfeife gezogen hatte, fügte er mit dem ruhigsten Tone von der Welt hinzu: »Du wirst Herrn von S. heirathen.«

– »Herrn von S.?« fragte Amalia wieder, und erröthete lebhaft, denn sie glaubte, daß es vielleicht Adam von S. wäre, der sich um ihre[37] Hand durch seinen Vater hätte bewerben lassen, und dieser junge, nicht eben häßliche Mann hatte ihr durchaus nicht mißfallen. »Welchen von den beiden Brüdern meinen Sie, lieber Vater?« fügte sie nach einer kleinen Pause schüchtern hinzu.

– »Keinen von Beiden,« versetzte der Vater, indem er das hingelegte Zeitungs-Blatt wieder aufnahm und die Augen darauf heftete; »Du wirst den Vater dieser beiden jungen Leute heirathen. Er hat sich gestern bei mir um Deine Hand beworben und ich sie ihm zugesagt; ich hoffe, daß Du das Glück zu schätzen wissen wirst, das Dir durch diese Verbindung zu Theil wird.«

Man kann sich denken, was Amalia empfand, als sie diese Worte aus einem Munde vernahm, der nie Widerspruch duldete; sie war einer Ohnmacht nahe und zerfloß in Thränen.

– »Nun, was ist Dir?« fragte ihr Vater, durch ihr Schluchzen von seiner Lectüre abgezogen, mit strengem Tone. »Die Partie ist Dir wohl am Ende nicht recht, und Du hättest vielleicht lieber einen von den jungen Fäntchen gehabt, die Dich seit einiger Zeit umschwärmen, wie ich mit großem Mißvergnügen bemerkt habe; aber daraus kann nichts werden, und Herr von S., mein alter Freund, ein Mann, der in der[38] allgemeinsten Achtung steht und der überdies reich wie Krösus ist, wird Dein Gemahl. Ich habe ihm das zugesagt, und es bleibt dabei.«

Die unglückliche Amalia antworte ihm nicht weiter; sie trug den Tod im Herzen und wankte auf ihr einsames Kämmerchen hinauf, um ihren Thränen freien Lauf zu lassen und Gott um Rettung anzuflehen; denn von Menschen konnte sie diese ja nicht erwarten. Hier war es, wo sich endlich der Entschluß aus ihrer Seele losrang, dem Vater mit Festigkeit erklären zu wollen, daß sie nie den Herrn von S. heirathen und lieber den Tod, als diesen wählen würde.

Sie erschien bei Tische nicht, sondern blieb, obgleich ihr Vater sie mehre Male durch die andern Kinder rufen ließ, auf ihrem Zimmer; sie hoffte, daß er durch ihre Widersetzlichkeit in Zorn gerathen und selbst kommen würde, und das eben wollte sie, um sich gegen ihn zu erklären.

Sie hatte sich in dieser Voraussetzung nicht getäuscht; er kam wirklich gleich nach Tische mit zornglühendem Antlitze zu ihr und stellte sie wegen ihrer Widersetzlichkeit zu Rede.

– »Mein Vater,« sagte sie, ihm flehend ihre Hände entgegenstreckend, »haben Sie Erbarmen mit meinem Zustande! Wie hätte ich, deren[39] Herz von der furchtbarsten Angst, von dem namenlosesten Schmerze bedrückt ist, wohl im Kreise meiner Geschwister erscheinen können?«

– »Du bist ein albernes Ding und scheinst mir schon Romane gelesen zu haben,« versetzte der Vater höhnisch; »aber kurz und gut, ich will Dein Gewinsel nicht länger anhören und Du wirst den Herrn von S. in vierzehn Tagen heirathen.«

– »Ich werde ihn nicht heirathen,« sagte Amalia, durch diese Härte auf's Aeußerste gebracht, mit festem Tone; »ich will tausendmal lieber sterben, als die Gattin dieses alten Gecken werden, der mir in tiefster Seele zuwider ist.«

– »Du willst ihn nicht heirathen und wagst mir zu trotzen, mir, Deinem Vater?!« rief dieser aus, und die allen seinen Hausgenossen so furchtbare Röthe des Zorns flammte auf seinem Antlitze empor. Dann hielt er plötzlich inne und schien sich mit Gewalt zu bekämpfen; er machte mehre Gänge durch das kleine Gemach und blieb endlich vor der vergehenden Tochter stehen, zu der er mit leiser, bebender und gänzlich veränderter Stimme sagte:

– »Du wirst den Herrn von S. doch heirathen, Amalia; Du wirst eine gute Tochter und[40] Schwester sein und die Deinen nicht durch Deine Hartnäckigkeit in's Unglück stürzen wollen! Wisse denn, daß ich ein ruinirter, ein auf ewig beschimpfter Mann bin, daß wir Alle an den Bettelstab gerathen, wenn Herr von S. nicht Dein Gatte wird. Du weißt, daß die Untersuchungs-Commission bereits hier ist; morgen wird Cassen-Visitation sein, und die meinige ist nicht in Ordnung. Herr von S. ist reich, sehr reich; er ist in Dich verliebt und würde Dich um einen weit theurern Preis erkaufen, als die tausend Thaler sind, die an meiner Casse fehlen. Sobald er Dein Jawort haben wird, entdecke ich mich ihm, und wir sind gerettet, wie ich mit Gewißheit weiß. Jetzt, meine Tochter, wirst Du nicht mehr sagen, daß Herr von S. nicht Dein Gatte werden soll; ich kenne Dein Herz und vertraue ihm.«

Mit diesen Worten verließ er sie.

In welchem Zustande die Unglückliche zurückblieb, läßt sich leicht ermessen. Bis zum Abende blieb sie allein, dann rief man sie hinunter; Herr von S. war da, er wiederholte seine Bewerbung um ihre Hand und das unglückliche getäuschte Schlachtopfer fprach ihr Ja aus.

Das Vorgeben ihres Vaters war, wie die Folge auswies, ein unwahres gewesen: seine[41] Casse befand sich in der besten Ordnung und er hatte, um Amalien zur Einwilligung zu der sehnlichst von ihm gewünschten Heirath zu bewegen, diese niedrige Lüge ersonnen, weil er sonst fürchten mußte, bei seinem Kinde einen unüberwindlichen Widerstand zu finden.

Herr von S., der sich am Ziele seiner Wünsche sah, bot Alles auf, sich seiner Verlobten gefällig zu erweisen; er ließ die reichsten Geschenke aus dem unfernen Hamburg für sie kommen; er richtete sein Haus zum Empfange seiner neuen Gattin auf's Prächtigste ein; er bot alle Künste der Toilette auf, um sich selbst so viel als möglich zu verjüngen, und betrieb die Anstalten zur Hochzeit mit um so größerer Eilfertigkeit, da er fürchten mußte, daß seine Verlobte noch ihr Wort zurücknehmen und er so um den so heißersehnten Besitz des schönen Mädchens kommen könne; denn daß Amalia ihm nur erzwungen ihr Jawort gegeben hatte, darüber konnte ihm kein Zweifel mehr bleiben, wenn er sie ansah: verwelkte sie doch seit dem Verlobungstage, wie eine von einem giftigen Wurme angenagte Rose!

Endlich kam der furchtbare Tag heran, an dem das unglückliche Mädchen sein furchtbares Opfer vollbringen sollte. Man putzte Amalien[42] auf's Schönste, man steckte ihr Diamanten in das reichgelockte Haar und vor den Busen; man schmückte sie mit Kränzen, Bändern und Schleifen und sie, die halb todt war, ließ Alles mit sich geschehen.

Bald stand der Priester vor dem ungleichen Paare, und erst als er das auf ewig bindende Ja von ihren Lippen forderte, erwachte Amalia aus der Betäubung, von der sie bis dahin befangen gewesen war: sie konnte es nicht aussprechen, dieses verhängnißvolle Ja; ihre Lippen versagten ihr den Dienst dazu, und sie sprach es nicht!

Sei es nun, daß der sie trauende Geistliche es trotz dem von ihren Lippen vernommen zu haben glaubte; sei es, daß er, durch Herrn von S. gewonnen, sich stellte, als habe er es sie aussprechen hören; kurz, er segnete den neuen Bund ein, als wäre Alles in der gehörigen Ordnung gewesen, und die unglückliche Amalia wagte keinen lauten Widerspruch, vermuthlich, weil ihr Vater ihr gegenüber stand und sei nen strengen Blick fest auf sie gerichtet hatte.

Glückwünschende umringten jetzt die Neuvermählten; allein Amaliens Kraft reichte nicht weiter: sie wurde ohnmächtig und man mußte sie[43] aus dem Saale in die für sie bereiteten Gemächer tragen, wohin ein Arzt aus der Gesellschaft ihr folgte.

Keinem in der Gesellschaft war es ein Geheimniß mehr, was in dem Herzen der armen Amalia vorging, und Jeder weihte ihr sein innigstes Mitleid; auch war die Verstimmung allgemein und sichtbar, und die Gesellschaft ging früh auseinander, da die Neuvermählte nicht wieder erschien. Herr von S. hatte, von Besorgniß getrieben, zu seiner kranken Gattin in's Zimmer gehen wollen, der Arzt es ihm aber, aus Rücksicht auf ihre Schwäche, verboten.

So herrschten Trauer und Unruhe in einem Hause, wo die größte Freude hätte herrschen sollen. Doch Amalia war an dem verhängnißvollen Tage nicht die einzige Unglückliche in demselben: die beiden Söhne des Herrn von S. hatten die heftigste Zuneigung für ihre Stiefmutter gefaßt, schon an dem Tage, wo sie die reizende Amalia im Hause ihres Vaters bei dem Festmahle sahen, und wurden seitdem von geheimer Gluth verzehrt.

Auch die reizlose, bereits dreißig Jahr alte Tochter des Herrn von S. war nichts weniger als erfreut über die neue Vermählung ihres Vaters, die ihr den häuslichen Scepter entriß und[44] ihn in die Hände einer Andern gab, und sie, die gewohnt war, über ihren Vater eine fast unumschränkte Herrschaft auszuüben, hatte es sich nicht nur erlaubt, demselben Vorstellungen über diese unpassende Partie zu machen, sondern ihn sogar mit Vorwürfen überhäuft, als er, der von seiner Leidenschaft wie verblendet war, den erstern kein Gehör geben wollte.

Für Charlotte war also das, was sich gleich nach der Trauung zugetragen hatte, gleichsam ein Triumph, und sie verschonte ihren alten, durch Amaliens Krankheit zu Boden geschmetterten Vater nicht mit ihren bittern oder beißenden Bemerkungen, die er, gebeugt wie er war, mit Ergebung hinnahm.

Am folgenden Tage war Amalia so weit wieder hergestellt, daß sie zu Mittag bei Tische im Kreise ihrer neuen Familie erscheinen konnte. Sie war bleich wie der Tod, aber selbst jetzt noch hinreißend schön; der Vater und die beiden Söhne betrachteten sie mit glühenden Blicken, während Charlotte die Mürrische spielte und sich nicht entschließen konnte, die Gattin ihres Vaters mit dem Namen Mutter zu begrüßen. Dies mußte ihr auch schwer fallen, da sie füglich[45] selbst die Mutter der unglücklichen Amalia, vermöge ihres Alters, hätte sein können.

Diefe sprach wenig über Tische und antwortete nur auf die an sie gerichteten Fragen. Ein hoher Ernst ruhte auf ihrem vor Kurzem noch so blühenden, jugendlichen und heitern Gesichte, und sie schien plötzlich um viele Jahre älter geworden zu sein.

Am Nachmittage kam ihr Vater mit ihren Geschwistern, um den Neuvermählten die üblichen Glückswünsche darzubringen; Amalia, an die er sich auch wandte, nachdem er seinen Schwiegersohn begrüßt hatte, sah ihn mit einem Blicke an, der bewirkte, daß er den seinigen zu Boden schlug; Vorwürfe aber machte sie ihm nicht, selbst da nicht, als er durch Zufall einige Augenblicke allein mit ihr blieb. Er entfernte sich bald wieder.

Es ist mir nie klar geworden, ob es der Arzt war, der Amalia in seine Behandlung nahm, als sie gleich nach der Trauung ohnmächtig wurde, welcher, aus Mitleid mit dem armen jungen Schlachtopfer, ihr angab, wie sie sich zu verhalten habe, um das unglückselige Band noch wieder lösbar zu machen, das sie jetzt umschlang, oder ob die Idee aus ihr selbst und aus ihrer unüberwindlichen Abneigung gegen von S. hervorging;[46] genug, dieser wurde nie ihr Gatte im wahren Sinn des Wortes, welche Mittel er auch aufbot, ihre Standhaftigkeit zu besiegen, und eben dieser Umstand war es, auf dem ihr Anwalt fußte, als es späterhin zu einer Scheidungs-Klage zwischen den beiden Ehegatten kam.

Charlotte, welche sich vor der Herrschaft der neuen Mutter so sehr gefürchtet hatte, sah diese Furcht bald beseitigt, denn Amalia bat sie gleich vom ersten Tage an, die Zügel des häuslichen Regimentes nach wie vor führen zu wollen, indem sie sich noch zu jung und unerfahren fühle, einem so großen, glänzenden Hauswesen vorstehen zu können, und dies begründete gleich ein besseres Verhältniß zwischen Beiden. Charlotte, so sehr sie auch zu Anfang gegen ihre junge Stiefmutter eingenommen gewesen war, konnte doch der Liebenswürdigkeit derselben nicht widerstehen, und es bildete sich bald eine Art von schwesterlichem Verhältniß zwischen Beiden, das, wenn auch von keiner Seite innig, doch ganz erträglich war.

Der alte von S. bemühte sich indeß mit seinen beiden Söhnen um die Wette, die Gunst der gegen alle Drei gleich spröden Amalia zu gewinnen; die Eifersucht, welche Jeder gegen den Andern an den Tag legte, führte oft die seltsamsten[47] Scenen herbei, und verwirrte bald dermaßen die Wirthschaft, daß man hätte glauben können, sich in einem Tollhause zu befinden.

Die Eifersucht des Vaters drang auf die Entfernung der beiden Söhne, von diesen aber wollte Keiner weichen, nicht, weil man den Vater als Nebenbuhler fürchtete, sondern ein Bruder den andern, dem er gutes Spiel zu machen glaubte, wenn er sich entfernte. Jeder hoffte, diese unglückselige Ehe früher oder später gelöst und dann sich zu Ansprüchen auf den Besitz der Heißgeliebten berechtigt zu sehen; Jeder drang in die Stiefmutter, sich der Gewalt eines Mannes zu entziehen, den sie nicht lieben könne, dessen Gattin sie nur dem Namen nach sei und dem sie nur gezwungen ihre Hand gereicht habe, und bot ihr für diesen Fall seine thätige Hülfe, seinen Schutz an.

Der Blick in eine Familie, in der alle Bande der Natur zerrissen, alle Verhältnisse durch Leidenschaft verkehrt worden waren, kann nicht gut thun; daher enthalte ich mich der Schilderung der einzelnen empörenden Scenen, die aus dieser Verwirrung hervorgingen.

Nur Amalia erhielt sich inmitten dieses Gräuels rein; nur sie wußte bestimmt, was sie wollte;[48] nur auf sie blickte Alles mit Liebe und Achtung, was sich sonst anfeindete. Weit über ihre Jahre hinaus, zeigte sie sich verständig, bedacht und tactvoll und wußte Alles um sich her, wenigstens ihr gegenüber, in den Schranken des Anstands zu erhalten.

Doch sollte auch sie in den verderblichen Strudel der sinnverwirrenden Leidenschaft hinabgezogen werden und ihre Allmacht über ein junges Herz kennen lernen.

Ihre Jugend fiel in die Zeit, wo Europa, und namentlich Deutschland, von den aus ihrem Vaterlande durch die Revolution theils vertriebenen, theils freiwillig auswandernden Franzosen überschwemmt wurde, und auch die Stadt, in der Amalia lebte, blieb von diesen Flüchtlingen nicht verschont. Unter ihnen nahm ein noch junger, ritterlicher und schöner Mann, der Marquis von Pütiny, die allgemeine Aufmerksamkeit und Theilnahme um so mehr in Anspruch, da er mit einer schönen Gestalt anmuthiges Wesen und die feinste Gesittigung verband. Man beeiferte sich von allen Seiten, dem liebenswürdigen Fremdlinge zuvorzukommen und ihn über sein unglückliches Schicksal, über die erlittenen großen Verluste zu trösten; man suchte aus allen[49] Winkeln seines Gedächtnisses sein weniges Französisch zusammen, um ihn zu unterhalten, der kein Wort Deutsch verstand, und bald wurde keine Gesellschaft mehr gegeben, zu der er nicht eingeladen worden wäre.

Lange hatte sich Amalia gesträubt, sich den geselligen Vergnügungen hinzugeben; zu sehr mit sich selbst und ihrem Grame beschäftigt; es sich zu sehr bewußt, daß sie der Gegenstand einer allgemeinen Neugierde und ihre häuslichen Verhältnisse der des lieblosen Spottes und Geklätsches wären, hatte sie sich in die Einsamkeit zurückgezogen, in der es ihr noch am wohlsten war, und wo sie wenigstens ungestört über die geknickte Blüthe ihrer Jugend weinen konnte.

Allein bald machten die sich immer mehr verwirrenden Verhältnisse in ihrem Hause ihr den Aufenthalt in demselben zur Hölle; bald war sie in der Stille ihres Gemachs nicht mehr gegen die Zudringlichkeit der sie mit ihrer verbrecherischen oder unstatthaften Liebe Verfolgenden gesichert, und sie floh wieder hinaus in die Welt, wo man die Schranken des äußern Anstandes doch gegen sie zu beobachten gezwungen war, und wo sie wenigstens auf Augenblicke frei aufathmen konnte.[50]

Man nahm sie, die Allen interessant und von Vielen bedauert war, mit offenen Armen wieder auf und es wurden ihr von allen Seiten die Huldigungen dargebracht, auf die sie sowohl wegen ihrer geistigen, als körperlichen Vorzüge Anspruch zu machen berechtigt war. In den neuen Lebenskreisen, die sich ihr hier eröffneten, war es, wo ihr der Marquis zuerst begegnete und ihr durch sein ächt ritterliches Wesen, durch die sanfte Schwermuth, die ihn trotz seiner Jugend umfloß, interessant wurde. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihre Stieftochter Charlotte auf eine gewisse Weise vertraut mit diesem jungen Manne; dies kam daher, daß Charlotte die Einzige in der Stadt war, die ganz geläufig Französisch sprach, so daß sie sich in dieser Sprache eben so gut, wie in ihrer Muttersprache unterhalten konnte. Ihr Vater hatte sie gleich nach dem Tode seiner ersten Gattin in eine von zwei alten Französinnen errichtete Pensions-Anstalt gethan, und sie in dieser die fremde Sprache sich ganz zu eigen gemacht.

Charlotte, die an Huldigungen, ihr von Männern dargebracht, wenig gewöhnt war, fand sich überaus durch die Aufmerksamkeiten geschmeichelt, die ihr von einem allgemein gefeierten und noch dazu von einem so jungen und schönen Manne,[51] dargebracht wurden. Der Marquis kam in den Gesellschaften, die sie gemeinschaftlich besuchten, sogleich auf sie zu, so wie er sie nur erblickt hatte; er nahm gern seinen Platz neben ihr und führte sie fast immer zu Tische, und sie hielt die ihrem Sprachtalente von ihm dargebrachten Huldigungen nach Art eiteler, sich selbst überschätzender Personen, für ihr persönlich dargebrachte, obgleich ein Blick in ihren Spiegel sie davon hätte überzeugen können, daß sie nicht dazu geschaffen war, einem jungen, schönen und gefeierten Manne zu gefallen.

In der Stadt beurtheilte man die Sache anders und glaubte, daß der junge Fremdling, der im Vaterlande durch die Gewalt der Umstände sein ganzes Vermögen eingebüßt hatte, darauf bedacht sei, sich ein solches in der Fremde durch eine reiche Heirath wieder zu verschaffen; denn Charlotte, deren Mutter sehr reich gewesen war, befand sich seit der von ihrem Vater eingegangenen zweiten ehelichen Verbindung im Besitze eines bedeutenden Vermögens, da Herr von S. mit seinen Kindern erster Ehe hatte abtheilen müssen, wie die Gesetze des Landes es wollten.

Mochte Charlotte nun selbst den Glauben hegen, daß der Marquis ernstliche Absichten auf[52] sie habe oder sie sich nur durch die ihr augenblicklich dargebrachten Huldigungen geschmeichelt und gehoben fühlen, ohne an die Zukunft zu denken; genug, sie fand an dem jungen Fremdlinge so viel Geschmack, daß sie nicht abließ, bis ihr Vater ihn auch zu sich einlud, und der Marquis blieb nicht aus.

Schon hatte er Amalia gesehen; schon hatten ihre fast wunderbaren Reize einen tiefen Eindruck auf sein leicht erregliches Gemüth gemacht; schon war sie der Gegenstand seiner Träume, seiner Wünsche und – Hoffnungen; denn nicht entgangen war es seinem Scharfblick, daß auch sie ihn nicht mit der Gleichgültigkeit ansah, womit sie andere Männer betrachtete; schon hatte er sie lebhaft erröthen sehen, als sein Blick zufällig dem ihrigen begegnete.

Ueberdies schienen ihre Verhältnisse, von denen er durch die Geschwätzigkeit der Bewohner des Städtchens hinlänglich unterrichtet war, seine aufkeimende Neigung nur allzusehr zu begünstigen. Eine junge, schöne Gattin an der Seite eines alten, abgelebten Gatten wird von jungen Männern stets als eine leichte Eroberung betrachtet, und so zweifelte von Pütiny auch nicht daran, daß er über Amalien den Sieg davon tragen[53] würde, wenn es ihm nur gelänge, sie öfter als bisher zu sehen, und dazu eröffnete sich ihm jetzt durch Charlottens Entgegenkommen die günstigste Aussicht. Freilich mußte er, um seine Wünsche nicht scheitern zu sehen, große Klugheit, Vorsicht und Feinheit aufwenden; allein er war sich aller dieser Vorzüge bewußt, er war ein Mann, der sich äußerlich durchaus zu beherrschen verstand, und überdies lange in der großen Welt gelebt hatte, und so begann er das mißliche Spiel mit fröhlichem Muthe, mit dem einem Franzosen so eigenthümlichen Selbstvertrauen.

Schwer, sehr schwer war aber die Aufgabe, die er sich gesetzt hatte; denn der Hort, den er heben wollte, wurde nicht nur von einem Faffner bewacht, sondern sogar von dreien, und überdies hatte er Charlottens Eigenliebe zu schonen.

Amalia kannte die Liebe und ihre Gefahren noch nicht, als sie den Marquis kennen lernte; zwar war ihr jetziger Stiefsohn Adam, ein hübscher, stattlicher Mann, ihr zu Anfang ihrer Bekanntschaft nicht eben widerwärtig gewesen und sie würde ihm vielleicht gern ihre Hand am Altare gereicht und wahrscheinlich eine glückliche Ehe mit ihm geführt haben; allein dieser flüchtige[54] Eindruck war längst wieder verwischt worden, eben weil er durchaus nur oberflächlich gewesen war, und jetzt könnte sie gar nur mit Abscheu und Widerwillen auf einen Mann sehen, der seine verbrecherischen Wünsche zu der Gattin seines Vaters erhob, dessen rücksichtslose Leidenschaft alle Schranken niederriß und den Gegenstand derselben dem öffentlichen Tadel oder doch der öffentlichen Mißdeutung bloß stellte.

So war Amaliens Herz völlig frei, als von Pütiny, der erste bedeutende Mann, der ihr entgegentrat, sich ihr in der Absicht näherte, es den Schlag der Liebe schlagen zu lehren. An's Unglaubliche aber streifte Charlottens Verblendung, die nicht bemerkte, daß ihre Stiefmutter der einzige Magnet war, der den Marquis in's Haus zog; nicht bemerkte, daß dieser nur noch Augen für Amalia hatte und gleichsam von ihren Blicken nur noch lebte. Weil er mehr mit Charlotten plauderte und mehr mit ihr plaudern konnte, weil sie der französischen Sprache mächtiger war, als ihre Stiefmutter, glaubte sie sich von dem schönen Fremden bevorzugt, und es kam ihr keinen Augenblick in den Sinn, daß sie an jener eine so gefährliche Nebenbuhlerin habe. Man kann sich vorstellen, daß der feine Franzose alles, was[55] in seinen Kräften stand, aufbot, um sie in ihrem Wahne zu bestärken.

Ein Umstand sollte ihre Sicherheit noch vermehren: Amalia, die die Gefahr zu ahnen anfing, von der sie durch den Marquis bedroht war, bat sie, die Besuche desselben einzuschränken und sie nach und nach, ohne daß es Aufsehen erregte, ganz aufhören zu lassen.

– »Und weshalb denn das?« fragte Charlotte verwundert. »Ist der Marquis nicht ein Mann, den man überall gern sieht und durch dessen Umgang sich Jeder geehrt fühlt?«

– »Ich gebe das gern zu, liebe Charlotte – aber« ...

– »Nun?« fragte diese verwundert, und sah ihre Stiefmutter mit großen Augen an.

– »Ihr Ruf, liebe Charlotte, der meinige ...« versetzte Amalia, und senkte erröthend das Auge zu Boden.

– »O, Sie, liebe Mutter,« rief Charlotte mit einem unangenehmen, verzerrten Lachen, »Sie sind in der ganzen Stadt für eine zweite Lucretia bekannt, und Ihr Ruf kann daher unter den Besuchen des Marquis nicht leiden; und was mich anbetrifft, so sein Sie außer aller Sorge. Es[56] wäre ja eben auch kein Unglück, wenn der Marquis« ... sie stockte hier und erröthete etwas.

– »Freilich wäre es kein Unglück, wenn der Marquis sich um Ihre Hand bewürbe, liebe Charlotte,« sagte die Mutter nach einer Pause mit einer Stimme, die so bewegt war, daß sie leicht zur Verrätherin ihres Innern hätte werden können, was aber von Charlotten nicht bemerkt wurde; »allein wir kennen diesen jungen Mann noch so wenig, und wer kann uns dafür einstehen, daß er nicht nur sein Spiel mit – uns wollte sie sagen, besann sich aber schnell und fügte nach einer kleinen Pause hinzu –: mit Ihnen treibt und sich auf Kosten Ihres Rufes, vielleicht Ihres Herzens und Ihrer Ruhe, amüsirt? Sie werden selbst eingestehen müssen, daß seine Besuche fast zu häufig werden und so leicht Stoff zum Stadt-Gespräch geben könnten.«

– »Daran werde ich mich auch kehren!« rief Charlotte piquirt, und das Gespräch hatte hier ein Ende, weil die Mutter es nicht weiter fortsetzen wollte.

Amalia hatte sich jetzt, wie sie meinte, mit ihrem Gewissen abgefunden, indem sie auf die Entfernung des Mannes gedrungen, der ihrer Ruhe, vielleicht gar ihrer Moral, gefährlich zu werden[57] drohte; dieses Abfinden war aber ein jesuitisches, denn hätte sie sich ernstlicher gefragt, so würde sie sich schon haben sagen müssen, daß sie die Entfernung des schönen, ihr so gefährlichen Mannes keineswegs wünsche, sondern nur mit dem größten Schmerz daran denken konnte. Indeß verlieh ihr dieser Schein-Versuch, eine Trennung zwischen ihr und dem Marquis herbeizuführen, eine verderbliche Beruhigung und Sicherheit, und sie, die jetzt Alles gethan zu haben glaubte, was nur irgend in ihrer Macht stand, um sich dem Verderben zu entreißen, gab sich von nun an ohne weitern Kampf dem Schicksale anheim.

Bald gestand der Marquis ihr seine Liebe; bald lag er zu ihren Füßen und beschwor sie, ihn durch ihre Strenge nicht auf immer unglücklich zu machen, und ach! bald las er in ihren thränenfeuchten Blicken das Geständniß ihrer Schwäche gegen ihn und einer Gegenliebe, die ihn auf den Flügeln des Entzückens in den Himmel trug! Keine Künste der Verführung wurden von ihm gespart, um Amalia in den Strudel des sittlichen Verderbens hinabzuziehen; allein der Sieg wurde ihm schwerer gemacht, als er, nachdem er einmal ihrer Liebe gewiß war, geglaubt hatte: Amalia war durch ihre treffliche Mutter in den strengsten Grundsätzen[58] erzogen worden und besaß überdies eine große Geistes- und Selbstbeherrschungskraft: sie widerstand ihm, sie blieb besonnen und würdig inmitten der Berauschung, worin eine so gewaltige Leidenschaft sie versetzte, und der Marquis scheiterte in allen seinen Versuchen auf ihre Tugend.

Da begriff er, daß er es nicht mit einer gewöhnlichen Frau zu thun habe, und da seine Leidenschaft, eben durch den Widerstand, den ihm Amalia leistete, nur noch heftiger entflammt wurde, redete er ihr von der Möglichkeit einer festen, selbst vor der Welt untadelhaften Verbindung. Er zeigte ihr deutlich, daß er ihr Verhältniß zu ihrem jetzigen Gatten, der es nur dem Namen nach sei, genau kenne, und schlug ihr vor, sich durch die Flucht mit ihm daraus zu retten; das Uebrige werde dann ein guter Advocat thun, und ihrem Glücke nichts mehr hindernd im Wege stehen, nachdem sie gerichtlich von ihrem Gatten getrennt sein würde.

Dieser Vorschlag fand, wenn auch erst nach heftigen Kämpfen, Eingang bei ihr. Sie hatte die Trennung von von S. immer als das einzige Rettungsmittel für sich angesehen und die Möglichkeit einer solchen klug sich zu erhalten gewußt; was sollte sie jetzt daran verhindern, sie herbeizuführen,[59] da auch ihr Vater bereits gestorben war und sein Wille kein Hinderniß mehr abgeben konnte? Auch die Liebe für Pütiny hatte jetzt ein Wort darein zu reden: sie konnte, wenn ihre Wünsche und Hoffnungen in Hinsicht der Trennung von ihrem jetzigen Gatten in Erfüllung gingen, das Weib des Mannes werden, den sie über Alles liebte und von dem sie eben so geliebt wurde; sie konnte sich überdies durch die Flucht Verhältnissen entziehen, die mit jedem Tage drückender und widerlicher für sie wurden, und die auf die Länge doch nicht haltbar gewesen wären.

So ging sie auf die Vorschläge des Marquis ein, und dieser bereitete mit Klugheit und Vorsicht Alles zu ihrer Flucht vor, die an einem Tage und in einer Stunde ausgeführt wurden, wo von Pütiny, um allen Verdacht von sich abzulenken, zum Besuche in ihrem Hause und in dem eifrigsten Gespräch mit Charlotten begriffen war.

Während desselben, kurz vor dem Abend-Essen, entfernte sich Amalia aus dem Wohnzimmer, begab sich in das ihrige, packte ihre Pretiosen und einige wenige nothwendige Sachen zusammen, mit denen sie sich, von der Dunkelheit begünstigt, in den Garten hinab begab. Von diesem führte eine kleine Hinterpforte zu einem reizenden Landsee, an[60] dessen Ufer, durch die Vorsorge des Marquis, eine leichte Barke befestigt war, die Amalia selbst regieren konnte, weil sie zu rudern verstand.

Alles ging glücklich; sie fand die Barke am Ufer, bestieg sie und ruderte glücklich zum jenseitigen Ufer hinüber, wo sie in dem Hause ihrer Amme, die an einen armen Fischer verheirathet war, eine sichere Zufluchtsstätte für die Nacht fand, denn diese Pflegerin ihrer Kindheit stand keinen Augenblick an, ihr auf ihre Bitten eine solche zu gewähren und ihr auch, für den Fall einer Nachsuchung, einen sichern Versteck anzuzeigen. Am nächsten Morgen wollte aber der Marquis sie in aller Frühe daselbst abholen und sie dann, mit zuvor schon bestellten Postpferden, weiter führen.

Die Zeit des Nacht-Essens war indeß herangekommen; das Essen stand auf dem Tische und man begab sich auf Amaliens Zimmer, um die Herrin des Hauses einzuladen, Theil daran nehmen zu wollen; der damit beauftragte Diener kehrte aber nach wenigen Minuten mit der Nachricht in das Wohnzimmer zurück, daß die gnädige Frau nicht oben sei.

– »So wird sie in einem andern Zimmer sein,« versetzte Adam auf diese Anzeige, und mit unwilligem Tone fügte er hinzu: »Weshalb hat[61] Er denn seine Herrin nicht ordentlich gesucht, Friedrich?«

– »Gnädiger Herr, ich bin überall im ganzen Hause gewesen, wo ich die gnädige Frau nur vermuthen konnte,« war die Antwort; »allein sie ist nicht da, sie ist sicher nicht da!« betheuerte er.

– »So wird sie vielleicht in den Garten hinabgegangen sein,« sagte der Marquis, der mit der angestrengtesten Aufmerksamkeit dieser Verhandlung zugehört und sich die größte Mühe gegeben hatte, die Deutsch Sprechenden zu verstehen.

– »Gewiß ist sie das!« betheuerte Charlotte, an die er seine Worte gerichtet hatte; »der Abend ist schön, sie wird noch ein wenig im Garten lustwandeln.«

– »So will ich die Mutter dort aufsuchen,« nahm Adam das Wort und verließ den Speise-Saal; ihm folgte der eifersüchtige Christian auf dem Fuße nach.

Beide durchschweiften den Garten nach allen Enden; Beide riefen laut den Namen der Mutter, allein keine Antwort wurde ihnen. Da hörte Adam, als er in die Nähe der zum See hinausführenden Pforte kam, daß diese, vom Nachtwinde bewegt, auf- und zuschlug, obgleich er sie selbst vor einigen Stunden, wie er zu thun gewohnt war, von innen[62] verriegelt hatte. Eine furchtbare Ahnung ergriff sein Herz: wie wenn die unglückliche Amalia, die in der letzten Zeit so ungewöhnlich still und nachdenkend gewesen war, ihrem Dasein ein Ende gemacht und den Tod in den Fluthen des Sees gesucht hätte? Er trat schaudernd zur offenen Pforte hinaus; Alles war still und der Mond beschien hell den Spiegel des Sees, dessen leicht gekräuselte Wellen, vom Nachtwinde sanft aufgeregt, sich plätschernd an dem blumigen Ufer brachen. Er rief hier nochmals den Namen der Mutter, allein auch jetzt blieb Alles still und er ohne Antwort.

Mit Gefühlen, die sich nicht beschreiben lassen, kehrte er in den Eß-Saal zurück, wo er den Bruder schon fand, der eben Bericht über sein vergebliches Nachforschen abstattete. Adam war blaß wie der Tod, als er wieder zu den Andern zurückkehrte, und ohne die Gegenwart des fremden Mannes zu beachten, rief er: »Sie ist fort! Sie ist nirgends zu finden!«

– »Fort!?« rief der Alte, und seine Gesichtszüge verzerrten sich krampfhaft. »Fort!?« wiederholte er, »und wohin, Unglückskind, wohin?«

– »Was weiß ich es?« versetzte Adam, sich[63] erschöpft auf einen Stuhl niederwerfend. »Vielleicht in den Tod,« fügte er nach einer Pause mit dumpfer Stimme hinzu. »Haben wir sie doch genug gequält, wir Alle – und die zum See führende Pforte stand offen.«

Der Alte erhob jetzt ein furchtbares Geschrei, griff nach der Klingel-Schnur und klingelte so lange, bis die ganze Dienerschaft des Hauses erschrocken herbeigerannt kam. Man erkundigte sich nach den Befehlen des Gebieters und erhielt Ordre, überall nachzusuchen, ob die Herrin des Hauses nirgends zu finden sei; man zündete Laternen an, man eilte in den Garten hinab, zum See hinaus, man rief Amaliens Namen überall; man brachte die ganze Nachbarschaft, am Ende die halbe Stadt, mit in Aufruhr, und der Marquis war einer der Eifrigsten beim Suchen und Rufen, so daß auch nicht der mindeste Verdacht auf ihn fiel. Alles war aber natürlich vergeblich, und der Gedanke an einen Selbstmord Amaliens faßte immer tiefer Wurzel in dem Herzen Aller. Mit dem ersten Strahl des Tages wurden eine Menge Böte auf dem See in Bewegung gesetzt, man warf Netze, Haken u.s.w. aus, um die Leiche aufzufischen, denn der vor Schmerz dem Wahnsinne nahe Alte wollte wenigstens die entseelte[64] Hülle Derjenigen haben, die er lebend nicht hatte besitzen können. Man fand aber natürlich nichts.

Erst mit Anbruch des Tags hatte der Marquis sich von der trostlosen Familie entfernt; zu welchem Ende, weiß man; allein er hatte sich zu lange aufgehalten, es war hoch im Sommer und der Tag überraschte ihn daher zu schnell; da auf dem See und am Ufer Alles in Bewegung war, konnte er, ohne gesehen zu werden, nicht zu Boot über denselben setzen, und mußte daher den Tag über noch in F. aushalten; man kann sich vorstellen, in welcher Unruhe und unter welchen Gefühlen er ihn zubrachte.

Die Meinung, daß Amalia den Tod gesucht und gefunden habe, hatte sich indeß im Hause des Herrn von S. geändert; Charlotte, die allein besonnen geblieben war, hatte auf dem Zimmer ihrer Stiefmutter Nachforschungen angestellt und dort die Entdeckung gemacht, daß ihr ganzer reicher Schmuck fehle, auch fand man alle Schlüssel zu ihren Schränken, Commoden u.s.w. vor, so daß man Alles genau durchsuchen konnte.

So hatte sie also doch die Flucht ergriffen; aber wohin und mit wem? Dies waren Fragen, die man sich vergebens vorlegte.[65]

Die Nachforschungen nahmen jetzt eine andere Richtung und der alte von S., der die schone Flüchtige um jeden Preis wieder haben wollte, warf sich in seinen mit vier Pferden bespannten Wagen, um ihr nachzusetzen, während die beiden Söhne sich zu Pferde setzten, um die entflohene Mutter in andern Richtungen zu verfolgen.

Adam, der wußte, daß Amaliens Amme am jenseitigen Ufer des See's wohnte und mit ihrem ehemaligen Pflegling, durch Wohlthaten, die sie noch immer von demselben empfing, in fortwährender Verbindung stand, kam auf den Einfall, die Hütte der alten Fischer-Frau aufzusuchen, und zum großen Erschrecken derselben trat er gegen Abend in ihre Hütte.

Der Umstand, daß unfern derselben am Ufer des Sees eine sehr hübsche, offenbar dem armen Fischer nicht zugehörige Barke befestigt war, bestärkte ihn in dem Verdachte, daß seine Stiefmutter hier eine Zufluchtsstätte gesucht habe, und wenn er sie, nachdem eine ganze Nacht und der größte Theil des Tages verloren gegangen war, auch nicht mehr in der Hütte der Amme zu finden hoffen durfte, so glaubte er doch durch Versprechungen oder Drohungen die Mitwisser dahin[66] bringen zu können, daß sie ihm die Richtung anzeigten, in der Amalia entflohen war.

Wie groß war aber sein Erstaunen und seine Ueberraschung, als sich, so wie er in der Dämmerung in die Hütte eintrat, ihm die Stiefmutter mit den französisch gesprochenen Worten entgegenstürzte:

– »O mein Gott, wie lange hast Du mich warten lassen, und welche Angst habe ich indeß ausgestanden!«

Die Arme hielt ihn für den Marquis und war so selbst zur Verrätherin an sich durch ihre Voreiligkeit geworden.

– »So? ich finde Sie also hier, liebe Mutter?« antwortete ihr Adam mit spottendem Tone. »Wenn Sie indeß Angst um den ausbleibenden Buhlen ausstanden, den ich jetzt aus Ihrer französischen Anrede errathe,« fügte er mit vor Wuth bebender Stimme hinzu, »so war die unsrige um Sie nicht minder groß; wir glaubten, daß Sie sich den Tod in den Fluthen gegeben hätten und haben Sie deshalb überall im See gesucht. Jetzt kommen Sie, damit ich Sie wieder nach Haus führe, und dem Skandal ein Ende gemacht werde, denn die ganze Stadt ist auf Ihrer Fährte.«

Es ist ein Wunder, daß dieses unerwartete[67] Zusammentreffen, dieses Scheitern gleichsam im Hafen, Amalien nicht den Tod auf der Stelle gab. Einen Augenblick war sie wie erstarrt, wie vom Blitze gerührt; dann faßte sie sich wieder und Adam zu Füßen sinkend, bat und beschwor sie ihn unter Thränen, sie nicht unglücklich zu machen.

Er besaß, obgleich er, von Leidenschaft verblendet, bisher gegen sie nicht recht gehandelt hatte, doch kein böses, verderbtes Herz und war sogar großmüthiger Regungen fähig; als er seine unglückliche Stiefmutter daher zu seinen Füßen liegen sah; als sie ihm mit der Beredtsamkeit, die die Verzweiflung eingiebt, ihre ganze grausame Lage, alle die Qualen auseinander setzte, die sie unverschuldet erdulden müssen, erweichte sich sein Gemüth, und er hob sie auf, um ihr Trost zuzusprechen.

– »Ich habe Sie geliebt, Mutter,« sagte er unter Thränen, »und liebe Sie noch, wie ich nie ein Weib geliebt habe, noch je wieder lieben werde; so kann ich Sie nicht unglücklich machen, Sie nicht denselben Schmerzen aussetzen, die mich gefoltert haben, seit ich Sie zuerst erblickte. Sie können noch wieder glücklich werden – Sie haben durch die Leiden, denen Ihre Jugend erlag,[68] das Recht erlangt, zum Ersatz dafür Glück und Freude vom Himmel verlangen zu dürfen – so sollen Sie sie erlangen, wenn es Gottes Wille ist, und nicht ich will Ihnen hindernd in den Weg treten. Machen Sie, daß Sie von hier fort kommen, denn auch mein Bruder Christian könnte auf den Einfall gerathen, Sie hier zu suchen. Mein Vater hat die Richtung nach *** eingeschlagen, wohin er Sie geflüchtet glaubt, da Sie dort nahe Anverwandte besitzen; Christian sucht Sie jetzt auf dem Wege von ** – vermeiden Sie also diese Beiden und reisen Sie mit Gott, der Ihr Schutz und Schirm sein wolle.«

Er wandte sich bei diesen Worten von ihr ab, um seine Thränen vor ihr zu verbergen; sie reichte ihm stumm vor Rührung ihre Hand, die er mit Heftigkeit küßte; dann entfernte er sich langsam und sie sah ihn nicht wieder.

Nach einer Stunde langte Pütiny an, der bleich von Schrecken zu ihr eintrat, da ihm Adam am Ufer begegnet war, ohne ihn jedoch anzureden, obgleich er ihn gesehen und erkannt haben mußte. Amalia konnte ihn beruhigen, und Beide traten, da ihnen jetzt keine Postpferde mehr zu Gebote standen, sogleich ihre Flucht zu Fuße an.

Mit Anbruch des Morgens erreichten sie die[69] nächste Station, ließen Postpferde und eine Postkutsche vor das Wirthshaus kommen, warfen sich hinein und fuhren nach N., wo sie Schutz und Hülfe bei Bekannten zu finden hoffen durften.

Hier angelangt, übergab Amalia sogleich ihre Angelegenheit einem geschickten Rechts-Anwalt und stellte sich zugleich auf seinen Rath unter den Schutz des Magistrats des Städtchens; denn das Land durfte man nicht verlassen, wenn der Scheidungs-Prozeß mit Erfolg geführt werden sollte.

Kaum hier eingerichtet – N. war damals auch unser Wohnort und wir lernten in ihm Amalien kennen – erschien, zum nicht geringen Erschrecken dieser, von S., der ihre Spur verfolgt und sie endlich aufgefunden hatte. Nicht wie ein zürnender Ehemann, sondern wie ein Flehender erschien er vor ihr und versprach ihr nicht nur, alles Vorgefallene zu vergeben und zu vergessen, sondern sie, sofern sie nur zu ihm zurückkehren wolle, zu seiner Universal-Erbin einzusetzen.

Man kann sich vorstellen, daß Amalia unerbittlich blieb, und da sie ihr Schutzrecht und die bereits eingeleitete Klage auf Trennung geltend machte, blieb dem von Liebe verblendeten Greise nichts weiter übrig, als sich trostlos wieder zu entfernen.[70]

Von nun an finden wir Amalia, der wir bisher nur unser innigstes Bedauern weihen konnten, schuldig: sie gab sich dem Geliebten ganz hin und wurde die Mutter zweier Kinder, die noch seinen Namen nicht führen durften, weil der Scheidungs-Prozeß noch nicht beendigt war; von S. suchte diesen, immer noch in der Hoffnung, daß Amalia zu ihm zurückkehren würde, durch alle der Chicane zu Gebote stehende Mittel in die Länge zu ziehen, und so zog er sich durch Jahre hin.

Es ist unglaublich, wie weit die Leidenschaft des bedauernswürdigen Greises für diese Frau ging: er überhaufte nicht nur Amalia selbst mit den reichsten Geschenken, die sie natürlich nicht annahm, sondern auch ihre Kinder; ja, er machte selbst nach der Geburt derselben noch Versuche, seine Gattin zu sich zurück zu führen und bot ihr zu dem Ende an, die beiden Kinder legitimiren und zu seinen Erben einsetzen zu wollen.

Der geschickt eingeleitete und geführte Prozeß ging indeß seinen Gang fort und wurde zu dem gewünschten Ende geführt: Amalia sah sich nach Verlauf einiger Jahre frei, und der Marquis gab ihr seine Hand am Altare, worauf er vorerst allein[71] in sein Vaterland zurückkehrte, wohin Napoleon ihm und den seinen den Weg eröffnet hatte.

Wie zu Anfang dieser Geschichte erzählt worden, berief von Pütiny jetzt seine Gattin mit seinen beiden Kindern zu sich, und wir haben über ihr ferneres Schicksal nichts weiter vernommen. Möge es, nach so vielen Stürmen ein glückliches gewesen sein![72]

Quelle:
Schoppe, Amalia: Erinnerungen aus meinem Leben, in kleinen Bildern. Altona 1838, S. 25-73.
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