Der Vorgesetzte und der Untergebene.

[66] Viele Menschen glauben, es verstieße gegen ihre Würde, wenn sie mit ihren Untergebenen in freundlicher, wir möchten fast sagen menschlicher, Weise verkehrten Zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität scheint ihnen ein kurzes, herrisches Wesen erforderlich, und sie vergessen ganz, daß echte Überlegenheit und Größe dieses Mittels entraten kann. Wahrhaft vornehme und geistig durchbildete Naturen verfallen nie in diesen Fehler.

Protzentum kennzeichnet den Ungebildeten oder Halbgebildeten, und wer imstande ist, die Wehrlosigkeit seiner Untergebenen zu Übergriffen auszunützen, offenbart seine niedere Gesinnung. Ein Freund von seinen Sitten und guter Lebensart wird es sich stets angelegen sein lassen, mit seinen Untergebenen in dem denkbar besten Einvernehmen zu leben; er weiß, daß dieses allein ihm wohl ansteht, daß es ihm einen guten Leumund einträgt und der gemeinsamen Arbeit am dienlichsten ist.

Ganz gleich, welcher Art das dienstliche Verhältnis ist, ob es sich am den Chef seinem Buchhalten, den höheren Beamten dem subalternen, den Meister dem Gesellen gegenüber handelt, oder ob wir an die Eltern und die Erzieherin ihrer Kinder, an die tüchtige Hausfrau und ihre Stütze u.a.m denken, in jedem Falle machen wir den Vorgesetzten zur Pflicht, sich eines freundlichen und höflichen Benehmens gegen ihre Untergebenen zu befleißigen. Überhebung und[66] Eigendünkel dienen nicht dazu, Hochachtung und Liebe zu erwecken. Freilich darf der Vorgesetzte andererseits nicht den Ton unpassender Vertraulichkeit gegen seine Untergebenen anschlagen. Wir begreifen nicht, wie es den meisten Menschen so schwer werden kann, in dieser Angelegenheit die goldene Mittelstraße innezuhalten, und bleiben dabei, den Grund hierfür in einem Mangel an Bildung und Lebensart zu suchen.

Den Untergebenen schärfen wir ein, sich allezeit eines zuvorkommenden und bescheidenen Betragens und einer unwandelbaren Höflichkeit zu befleißigen, ohne in charakterlose Kriecherei zu verfallen. Keinerlei Ungebührlichkeiten vonseiten ihrer Vorgesetzten dürften imstande sein, sie die Ruhe und Artigkeit vergessen zu lassen, welche ihre Stellung unbedingt von ihnen fordert. Und diese Taktik sollten sie nicht nur deshalb befolgen, weil sie ihnen zu einem gesicherten Fortkommen nötig ist, sondern vorzugsweise im Hinblicke auf die göttliche Ordnung der Dinge, welche ein williges Fügen unter die Hand der Obrigkeit von uns fordert.

Fleiß, Treue und Pflichteifer sind die unentbehrlichen Tugenden jedes Arbeiters. Das Gefühl, seine Stellung einzig der eigenen Kraft und Tüchtigkeit zu verdanken, wird ihn in sich selbst festigen und ihm, auch seinen Vorgesetzten gegenüber, eine Sicherheit des Auftretens geben, die, gepaart mit zurückhaltender Bescheidenheit, diesen ein unbedingtes Zutrauen zu seiner Leistungsfähigkeit und Urteilskraft einflößt.

Es treten Fälle ein, in denen der Untergebene dem Vorgesetzten an natürlicher Begabung, Wissen und Umsicht bedeutend überlegen ist. Denken wir nur an die hochgebildeten Mädchen, welche ihr Leben als Erzieherinnen fristen, und häufig verurteilt sind, sich Leuten unterzuordnen, die ihnen in keiner Beziehung die Wage halten. Wo immer solche Verhältnisse auch eintreten mögen, sie dürfen dem Untergebenen niemals ein Grund sein, die gute Lebensart durch unbescheidenes Hervorthun gröblich zu verletzen. Wir müssen ihm schon deshalb ein so unschickliches Betragen widerraten, weil es schwerlich dazu dienen würde, seine Stellung angenehmer zu gestalten; denn es liegt in der menschlichen Natur, Überlegenheit an Untergeordneten für unberechtigt zu halten. Hervorgekehrt erscheint sie vollends als Fehler und erfährt eine dementsprechende Behandlung. Wer also wirklich klug ist, übe Selbstbeherrschung und tilge alle Hoffart an sich, um nicht durch sie zu Falle zu kommen.

Die Kollegen, Amts- und Handwerksgenossen, sollten einander in allen Dingen förderlich sein. Eifersüchteleien, Mißgunst[67] u. dgl. müßten sich bei gebildeten Leuten von selbst verbieten. Noch schlimmer als durch sie aber wird die gute Sitte durch Zwischen- und Zuträgereien verletzt. Dinge, welche das Einvernehmen unter den Amtsgenossen oder den Vorgesetzten und Untergebenen stören könnten, sind thunlichst totzuschweigen, weil es unklug und taktlos ist, die Sachlage durch Weitertragen und wiederholentliche Besprechungen zu verschlimmern. Die Vorgesetzten sollten es sich zur festen Regel machen, Zuträgern niemals ihr Ohr zu leihen und sich ebenso abweisend der Schmeichelei und Kriecherei gegenüber zu verhalten.

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 66-68.
Lizenz:
Kategorien: