Unglücksfälle.

[153] Ist das Unglück mit dunkler Gewalt hereingebrochen, so trage man es ernst und mutig. Der Welt die ganze Größe des Schmerzes zu offenbaren kann nur kleinen Seelen beikommen; große werden um so strenger in der Selbstbeherrschung sein, weil sie sich klar machen, das wahres, echtes Mitgefühl eine seltene Perle ist, und daß in den meisten Fällen unedle Neugier den inneren Beweggrund für äußere Teilnahme bildet.

Um ersetzliche Verluste, als Gut, Haus, Hof u. dgl. sollte der Weise nie jammern, sondern sie mit ruhiger Würde tragen; anders wenn es sich um Ehre, Gesundheit und Leben handelt. Da bäumt sich unser Innerstes auf, und der Schmerz, der in uns tobt, ist echt menschlich. Es giebt aber auch Verluste, die so ungeheuer sind, daß sie eine umheimliche Ruhe im Gefolge haben. Durch diese ruhige Seelengröße werden zugleich die Vorschriften des guten Tones am besten erfüllt und die geschäftigen Zungen am schnellsten zum Schweigen gebracht.

Wie außerordentlich unpassend es ist, das Unglück des Nächsten zum Stoffe müßigen Geschwätzes oder gar böser Nachrede zu machen, müßte jedem einleuchten, der sich Herz und Gefühl bewahrt hat, und bei dem der Begriff guter Sitte nicht nur in Komplimenten und hohlen Redensarten besteht. Viele Unglücksfälle sind so intimer Art, daß es am sichersten ist, gar nicht darüber zu sprechen.

In solchen ernsten Fällen wird es auch besser sein, von sogenannten Beileidsbesuchen abzusehen. Dieselben könnten dem Schmerze der Betroffenen lästig werden und haben meist einen ziemlich unangenehmen Beigeschmack nach Neugierde. Man kann zu leicht in den Verdacht kommen, als wolle man aus erster Hand recht eingehende Details der eklatanten Geschichte einsammeln. Darum drücke man sein Mitgefühl in anderer Weise aus. Vielleicht durch eine herzliche Zuschrift, in der man erwähnt, daß ein persönlicher Besuch nur aus Zartgefühl unterbleibt.

Unglücklichen gegenüber stets richtigen Takt zu beweisen, ist leider nicht jedermanns Sache, nur Menschen von sehr seinem Gefühle vermögen es. Vielleicht aber träfen bedeutend mehr das Richtige, wenn sie Phantasie genug hätten, sich in die Lage der Heimgesuchten zu versetzen und ihr Benehmen so einrichteten, wie es ihnen selber von ihrem Nächsten gefiele.[153]

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 153-154.
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