Jahresschluß.

[100] Am Donnerstag abend mußten wir wieder in die Kirche. Es war Silvester, der letzte Tag des Jahres 1903.

Das Jahr sei nun bald zu Ende – ermahnte uns der Pfarrer, hauptsächlich jene, die bald wieder entlassen wurden – wir sollten ein neues Leben beginnen. – Es war zu ironisch, als ob es bloß an uns lag!..

Nach der Kirche gingen wir in unsere Schlafsäle. Die Beamten zählten uns ab und verschlossen die Türe. An diesem[100] Abend war es frühzeitig still. Ein Jeder grübelte vor sich hin. Jeder beschäftigte sich mit seinen Gedanken. Ich stellte Betrachtungen über Zschokkes »Neujahrsnacht eines Unglücklichen« an und wie schwer klangen doch die Worte in mir fort: »Vater, gib mir meine Jugend wieder!« Ich ließ mein ganzes Leben vor meinem geistigen Auge passieren. Ich dachte an meine Mutter, Schwester und Schwager. Die verlebten jetzt im Familienkreis die letzten Stunden des alten Jahres und ich war hier in den Reihen der Ueberflüssigen ...

Es wurde Mitternacht und glückliche oder sich glücklich fühlende Menschen riefen mit gellenden Stimmen sich ein Prosit Neujahr zu. Es schien so, als ob sie es uns zuriefen, in Wirklichkeit beglückwünschten sie sich selbst. Wer sollte auch an uns den ken? Vielleicht einer, der auch hier die Strafe schon einmal durchgefühlt hatte. –

Die Glocken von Schönebeck, Frohse und Großsalze verschmolzen zu einem Bimbam. Der Straßenlärm klang in meinen Ohren wie Höllengelächter. Dieser Lärm machte mich nervös. Ich legte mich auf mein gesundes Ohr und schlief ein, aber heute spielte der Teufel auf meinen Nervensträngen gewaltige Akkorde und ich träumte:

Ich bin in der Anstaltskirche, habe unter meiner Jacke einen Hammer. Der Pfarrer hatte gepredigt. Die Aufseher schoben uns in Reihe und Glied. Da kam der falsche Stellvertreter Gottes. Den Hammer aus meiner Jacke ziehend, schlug ich ihn nieder wie einen Hund. »Stirb, Teufel in Menschengestalt, Du hast mir den letzten Rest meines Glaubens geraubt,« rief ich mit wilder Stimme.

Ein hinter mir Liegender weckte mich: »Mensch, Du hast Alpdrücken, wach auf. Was ist mit Dir los? Du schreist von Totschlagen!«

Ich sagte ihm, daß ich geträumt habe, ich hätte den Anstaltsgeistlichen erschlagen – aber froh sei ich, daß ich es nicht getan hätte.

»Schade wär's nicht,« sagte mein Partner, der zwei Jahre abzumachen hatte. »Doch der Kerl ist das Totschlagen nicht mehr[101] wert. Er ist zu schlecht. Was der mit seinem religiösen Uebersinn uns schon geschunden und gequält hat, nimmt kein Papier auf.«

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 100-102.
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