Neuer Zuwachs.

[102] Den anderen Morgen stieg ich mißmutig auf aus meinem Bett, wusch meinen Oberkörper, spülte meinen Mund aus, richtete mein Bett, ging mit den anderen Essenträgern und holte unsere Mehlsuppe. Das Weib des Schneiders stand im Hof der Weiberabteilung und heulte. Eine Aufseherin suchte sie zu beruhigen. Sie weinte aber weiter; warum sie greinte, weiß ich nicht. Hatte sie Sehnsucht nach ihrem Mann, oder nach ihrem Kind?

An diesem Neujahrsmorgen lernte ich einen Klempner mit Namen Frank aus Gotha kennen; bei Harjes & Kallmeyer in der Metallwarenfabrik hatte er gearbeitet und gelernt. Er war in den zwanziger Jahren, also noch sehr jung – und schon Winde! Wir sprachen von Gotha. Meine Mutter kannte er nicht. Meinen Stiefvater auch nicht. Die Arbeit, er lernte Faserdecken machen, gefiel ihm durchaus nicht. Das Pensum würde er nicht schaffen, sagte er.

Wir trafen uns noch öfter, ich und mein Landsmann.

Am Nachmittag las ich in alten Heften eines alten Jahrgangs des Universum die Biographie von Friedrich Hebbel.

Am Samstag beendeten wir die Inventur und drehten Rad. Ich mit neuen Sorgen und Hoffnungen: »Was fängst Du an, wenn Du entlassen wirst? Findest Du auch bald Beschäftigung?«

Die Tage schlichen langsamer hin. In vier Wochen wurde ich entlassen. Die letzten Stunden meiner dreiundzwanzigsten Woche gingen dahin.

Ich bekam einen neuen Schlafkollegen. Er besetzte das Bett neben mir. Ein alter Mann, der den Krieg von 1870/71 mitgemacht und als kranker Invalide nun zum Dank Arbeitshaus[102] verbüßen mußte. Das Wasser konnte er nicht halten und litt an Bettnässen.

»Ja, da hat man sich für das Vaterland gequält, hat Lause gehabt, draußen biwakiert und Menschen totgeschossen – und jetzt ist man auf der Winde! Verdienen kann man nichts, weil ich kein Pensum mache. Nichts kann man sich schreiben lassen, noch nicht einmal Priem. Es ist ein Jammer! Aus Not habe ich gestohlen und gebettelt. Ein alter Lump bin ich geworden,« so jammerte er. – –

Ich gab ihm ein Stück Priem, den er zwischen seine Backen schob und sehr bedächtig kaute. Er klagte über Frost und Reißen in seinen alten Knochen. Der Hausvater aber putzte ihn runter wegen des Bettnässens, das sei Schweinerei!

Doch der Doktor in Magdeburg schrieb den Mann gesund für ein halbes Jahr Arbeitshaus und ich kann sagen, er roch schon wie eine lebende Leiche ...

Ohne besondere Eindrücke verfloß meine vierundzwanzigste Woche. Ich hatte nur die Abwechslung, daß wir uns in der Raddreherei stritten und wieder einigten, je wie die Stimmung. in der wir lebten, es erlaubte.

Einen Buchdrucker lernte ich kennen. Dieser machte wie ich seine erste Winde ab (Arbeitshausstrafe). In Magdeburg beim Betteln erwischt, wurde er überwiesen. Er machte Faserdecken und sein Pensum spielend, sogar Ueberpensum. Beim Rundgang erzählte er mir dies. Bloß das ewige Einerlei in dieser Anstalt widerte ihn an – und das rohe Benehmen seiner Kollegen: »Der Teufel sollte dreinschlagen unter so eine Korrigendengesellschaft. Ein bischen Gemeinsinn haben unsere Leute auf keinen Fall. Die meisten benehmen sich wie Bestien in einer Arena. Ein jeder von uns will lieb Kind bei den Spannern sein.«

Wir trafen uns öfter beim Rundgang. Er litt sehr an Neurasthenie; ihm ging es wie mir. Seine fünfzehn Ellen dieses Nervenleidens hatte er weg – ebenso wie ich.

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 102-103.
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