Erfurt, Mainz, Coblenz, Cöln, Düsseldorf, Cöln.

[87] Eines Tages, als er sehr schlecht war, besuchte ihn der Doktor noch des Abends nach 9 Uhr. Er sprach ihm das Leben ab und sagte, wenn er's raten dürfte, sollten wir nach einem Priester schicken, weil er keine 24 Stunden mehr, wahrscheinlich, zu leben hätte. – Schlag auf Schlag! Meine Mutter war trostlos. Denn nun, da ihr Sohn auch am Rande des Grabes stand, schien erst der Verlust ihres Mannes ihr fühlbar zu werden. Denn man wird sich erinnern, in welchem Zustand sie war, da er starb. Die vielen Unglücke, die uns[87] folgten, hatten mir eine Härte gegeben, die bei meiner Jugend für die, die nicht den ganzen Umfang wußten, Erstaunen erregen mußte. Ich trat ans Bett meines Karl, nahm seine Hand in die meinige und kündigte ihm sein Todesurteil an. Gelassen hörte er mir zu. »Willst du einen Geistlichen?« »Ja, Karoline, laß einen kommen!« Schnell lief ich selbst fort nach dem ersten Kloster, das ich fand, und läutete an. Ich stand eine gute Weile, ehe jemand kam. Endlich erschien ein Mann in weltlicher Kleidung, der mich frug, was ich wollte. »Mein Bruder ist krank, will sterben und verlangt einen Priester.« Der Mann sagte: »Kommen Sie nur herein! Ich will gleich einen Pater wecken. Sie schlafen schon alle.« Ich folge ihm, und der Mann schließt die Tür zu, durch die wir gekommen, macht eine andere auf, durch die er fortgeht, und schließt auch die zu, und ich finde mich nun eingesperrt in einem Gewölbe, durch das nicht ein Schimmer von Licht fiel. »Ist der Kerl toll?« Ich tappte herum, fühlte nichts, als die kalten, steinernen Wände. Ich wollte eine von den Türen öffnen, aber alles war umsonst. Angst und Furcht ließen mich kaum Atem schöpfen. Das weiß Gott, daß die kleine halbe Stunde, die ich da eingesperrt war, mir länger vorkam, als eine ganze Nacht.

Endlich wird die Zitternde durch das Nahen des Geistlichen erlöst, der zurückprallt, als er die Weißgekleidete in einem Eckchen des Gewölbes stehen sieht. – Daheim in dem Jammer wünscht sie sich mit zu sterben, um all dem Elend zu entgehen; ihr Herz ist fast schon tot. Doch gibt der Priester, nachdem er die Absolution erteilt, wieder einige Hoffnung.

Die Nacht war ruhig, und Karl fand sich am Morgen etwas erleichtert.

H. Doebbelin, der gar nicht mehr in Erfurt spielen wollte, gab doch noch zwei Komödien, wo ich aber nicht mitgespielt, sondern nur einmal mit H. Mirk tanzen mußte. Der Zuspruch in den beiden Malen war so gering, daß wohl schwerlich die Unkosten eingekommen waren. Nun hieß es, wir sollten reisen. Auch mit meinem Bruder wurde es täglich besser, und als der Tag der Reise beschlossen war, konnte er solche ohne alle Gefahr antreten. Wir fuhren nun alle, auf gute Wagen[88] gepackt, nach Mainz und kamen glücklich und vergnügt an. Wer hätte nicht gedacht, daß da bald die erste Komödie sein würde? Aber H. Doebbelin hatte und bekam keine Erlaubnis zum Spielen. Er ließ die ganze Gesellschaft zusammenkommen und sagte, daß er nicht imstande sei, solche länger zu erhalten, und ein jeder könne zusehen, wo er bleibe. Schöner Trost! Herr Köhler, den wir in Erlangen kennen gelernt hatten, war ehemals Tänzer auf dem Theater und nun Tanzmeister in Mainz. Den jammerte der Anblick von so vielen trostlosen Gesichtern, und er beredete H.D., er möchte den Rhein hinunterfahren, da wäre Coblenz, Bonn, Cöln, Düsseldorf, wo er doch Hoffnung haben könnte, an einem von den Orten zu bleiben und sich so viel zu verdienen, daß er nicht nötig hätte, sich und so viele Menschen außer Brot zu setzen. Denn wir waren mit allen zusammengerechnet 20 Personen stark. Das geschah; wir wurden alle auf ein Schiff geladen und schwammen nach Coblenz. Die Reise war kurz und angenehm, – und wer könnte nicht alle Trübsal vergessen bei so viel mannigfaltigen Abwechslungen, die die Gegend am Rhein gibt? Wer solche passiert, wird und muß es gefühlt haben.

An einem heiteren Mittag langten wir an. Wir hörten gleich nach Tisch, daß der H. Doebbelin mit seinem Bruder nach dem Lustschloß gefahren, wo sich der Kurfürst den Sommer über aufhielt, aber solchen nicht getroffen habe und willens wäre, den anderen Tag sein Gesuch aufs neue zu wiederholen. Voll Hoffnung legten wir uns schlafen, und den Morgen darauf ging mein Bruder zu H. Doebbelins Wohnung, um zu erfahren, wie es wohl weiter gehen würde? Bald kam er wieder mit der köstlichen Nachricht, H.D. mit seiner Frau und zwei Koffern habe sich den Morgen in aller Frühe auf die Extrapost gesetzt und wäre fortgefahren. Aber wohin? Ja, das wußte kein Mensch. Sein Bruder, Theater und Theaterkleider waren da, aber H.D. hatte die Schlüssel bei sich. Da saßen wir nun alle und sahen uns an, der H. Bruder Doebbelin sagte: »Mein mon frére wird Permissionen suchen.« Zum Glück waren wir zu einer guten Wirtin gekommen, die uns alle Mittag zu essen gab, ohne daß sie uns um Bezahlung[89] mahnte. Die meisten hatten's nicht so gut und verkauften und versetzten. Manche liefen in die Waldungen und stillten Hunger und Langeweile bei den Haselnüssen. Die vierte Woche war zu Ende, und kein Mensch wußte, wohin unser Direktor gekommen. Endlich hielten die Herren eine Zusammenkunft und beschlossen, daß man die sechste Woche abwarten wolle, und wenn da noch keine Nachricht da wäre, wolle man dem Kurfürsten unser Elend in einem Memorial vorstellen, um die Erlaubnis bitten, auf unsere gemeinschaftlichen Kosten zu spielen, die Koffer zu erbrechen und Theater und Kleider zu benutzen. Doch zum Schluß der sechsten Woche kam H. Doebbelin selbst, löste uns ein, denn wir waren so gut wie alle versetzt, und reisten mit ihm zu Schiff nach Cöln.

Es war in den ersten Tagen des September. Die Schweizer lagen da in Garnison, der Adel ist auch groß, und kurz, H. Doebbelin nahm viel Geld ein. Wir spielten bis nach Neujahr 1758 und reisten nun nach Düsseldorf. Da ging es schief. Im Ballhaus wurde gespielt; das war den Franzosen, die im Winterquartier lagen, zu kalt, und aus der Stadt kam wenig oder nichts. Die Fasten war da, und ehe solche kam, hatten wir schon in vier Wochen keinen Hehler gesehen. H. Doebbelin ließ abermals die Gesellschaft berufen und sagte allen: »Hier habe ich großen Schaden gehabt, wir können hier nicht länger bleiben; also will ich wieder zurück nach Cöln; da ich die Fasten nicht gespielt habe, kann ich nur halbe Gage geben, und da ich vor der Fasten nichts eingenommen, gebe ich auch nur halbe Gage.« War zusammen statt 8 Wochen 4. – Da standen alle und sahen sich an. Was war zu machen? Wer mit der Bagage nicht wollte 8 Tage auf dem Wasser schwimmen mit dem Treibeis, der konnte auf seine Kosten die Post nehmen oder zu Fuß gehen. Also, ein Teil schwamm, ein Teil lief zu Fuß und ein Teil nahm den Postwagen, zu den letzteren gehörten auch wir, und so kamen wir wohl und gesund am Palmsonntag in Cöln an.

Den zweiten oder dritten Osterfeiertag war die erste Komödie, und schon merkte man den Abfall; denn die Schweizer waren nicht mehr da. Kurz, es kamen mit jeder Komödie weniger Leute, und wir erhielten immer weniger Gehalt.[90] H.D. wollte sich retten mit dem Spiel und hatte auch einige Mal Glück, so daß auch wir nun 14 Tage richtig bezahlt wurden. Aber was ist Glück im Spiel? Bald verlor er wieder, nicht allein was er gewonnen, sondern auch noch das übrige, was er hatte. Da es in Cöln also gar nicht mehr gehen wollte, so entschloß er sich, nach Bonn zu reisen und dem Kurfürsten ein Memorial zu überreichen mit der Bitte, da zu spielen. H.D. mit seiner Frau, Kind und Amme reisten fort, und mich nahmen sie mit. Sollte einen Schein haben. Dabei war ich, als er das Memorial im Garten dem Fürsten überreichte, der uns zwar gnädig ansah, aber nichts sprach. Als wir nach Hause kamen, sagte Herr D., ich müßte morgen allein nach Cöln zurück, weil zu übermorgen die Komödienzettel im Druck wären und ohne mich kein Stück und Ballett könne gegeben werden, da seine Frau bei ihm bliebe und er abwarten müßte, was ihm der Fürst würde sagen lassen.

Wohl war mir nicht zumute, besonders, da ich gesehen hatte, daß er seine und seiner Frau beste Sachen alle bei sich hatte. Was sollte ich aber tun? Kurz, ich reiste den andern Tag ab. Was ich auf dem kurzen Weg für Angst ausgestanden, das weiß ich. Fast in jedem Ort, wo ich durchfuhr, lagen französische Offiziere. Die meisten waren lauter Jungens, und man kennt denen ihre Wildheit. – Ich stellte mich taub und stumm; denn mit ihnen sprechen konnte ich doch nicht. Glücklich kam ich nach Cöln, indessen war es von H.D. sehr unbesonnen, ein junges Mädchen, wie ich es war, so ganz allein fortreisen zu lassen, und im Krieg! Hier war mehr Glück wie Verstand. Wie nun, wenn der Kutscher ein Schurke gewesen wäre und nicht in Cöln sagte: »Mit dem Jungferchen hätte ich mir Geld machen können, aber ich bin ein ehrlicher Kerl, hab' allen mit weisgemacht, sie wäre jeck.«1 Dank, Guter, dir noch! Hattest ein gut Trinkgeld verdient, aber ich hatte keinen Stieber, den ich dir hätte geben können.

Der Gesellschaft richtete ich von H.D. alles aus, was der gesagt hatte, man schickte nach der Buchdruckerei, um den Zettel zu korrigieren, aber der Buchdrucker wußte von nichts.[91] Dem ohngeachtet wurde untereinander eine Pantomime und ein Ballett gewählt; aber es kam nicht viel über die Unkosten ein. Wir hörten also auf zu spielen und erwarteten unseren Direktor. Der kam mit seiner Frau und Kind und Amme, aber ohne Koffer. Die Aeltesten von der Gesellschaft nebst den Bürgern der Stadt, die von ihm zu fordern hatten, gingen mit ihm vor den Herrn Bürgermeister. Was kam heraus? Der Rat gab H.D. ein Empfehlungsschreiben nach Aachen, daß er dort um die Erlaubnis ersuchen und uns dann alle nachkommen lassen solle, und D. legte einen Eidschwur ab, alle Schulden zu bezahlen – wenn er könne. Meine Mutter schickte meinen Bruder zu H.D., daß er sich von ihm über unsere Schuldforderung sollte einen Schein geben lassen, und dann die 5 Gulden für Kinderzeug, das meine Mutter für Madame Doebbelin von unserer Wirtin auf Borg genommen. Mein Bruder kam nach Hause mit Tränen in den Augen. »Doebbelin ist schon fort, und sie wollte mit der Amme und Kind eben fortfahren. Wie ich wegen des Kinderzeugs sprach, sagte Madame Doebbelin mit Weinen: ›Ich habe kein Geld, solche zu bezahlen, und nehmen Sie mir solche, muß ich meine Karoline nackend auf die Reise nehmen.‹ Da ließ ich sie ruhig fortreisen, werden uns schon bezahlen.«

Fort waren sie! Nicht nach Aachen, sondern nach Frankfurt; und an uns alle, die wir in Not und Jammer zurückblieben, wurde nicht gedacht. Wir schrieben um Engagement an die Herren Koch, Schuch und Ackermann,2 entschlossen, zu[92] dem zu gehen, der uns zuerst antwortete und Reisegeld schickte. Die Leute, bei denen wir wohnten, hießen Zöllner, er war ein Schneider und war ein so böser Mann, wie sie ein gottloses, ehrvergessenes Weib. Schuldig waren wir, das ist wahr, aber doch ohne unser Versehen. Inzwischen hatten wir an Kleidern und Wäsche und übrigen Sachen noch immer mehr, als unsere Schuld ausmachte, und endlich mußten doch Briefe kommen, die allen Leiden sollten und mußten ein Ende machen. – Mit dem allen war unsere Frau Schneiderin nicht zufrieden, und sie dachte, sich mit mir einen guten Kuppelpelz zu verdienen. Des französischen Generals (leid ist's mir, daß ich seinen Namen nicht weiß) Sohn, der Marquis hatte Absichten auf mich und hoffte um so eher seinen Zweck zu erreichen, weil er genau unterrichtet war von unseren traurigen Umständen. Unsere Wirtin drang darauf, ich sollte den Marquis sprechen. »Frau, sie ist nicht gescheut! Kann ich französisch und der Marquis deutsch?« Sie wollte Dolmetscherin sein. »Und ich spreche ihn nicht und will ihn nicht sprechen.«

So gingen einige Wochen hin. An einem Sonntag war ich ausgewesen, kam so ungefähr um 8 Uhr nach Hause. Vor meinem Hause begegneten mir einige bekannte Frauen mit ihren Männern, die sich mit mir ins Gespräch einlassen. Indem wir so schwätzen, kommt der General mit seinem Sohn und mehreren Offizieren an mir vorbei und grüßt mich (denn der General wohnte nur wenige Häuser von dem[93] meinigen ab). Kannte mich vom Theater. Als sie so ungefähr 20 Schritte weg waren, sagte der Marquis an den Läufer etwas, und dieser kommt auf meine Wohnung zu, grüßt mich und geht zu meiner Wirtin in die Küche. Nun kam auch der Marquis mit einem kaiserlichen Offizier zurück, grüßen mich und gehen nach der Straße zu, wo sie erst hergekommen. Wie der Blitz war mein Läufer nun nach, und alle drei standen an einem Apothekerhaus, das, wie unser Haus, auch ein Eckhaus war. Mir schlug doch das Herz vor Angst. Merken konnte ich, daß es mich anging. Jene, mit denen ich geschwatzt hatte, gingen fort, und ich nach meinem Zimmer. Mochte nun halb 9 Uhr sein.

Ich sagte meiner Mutter den Vorfall und sprach weiter: »Geben Sie nur acht, die Alte wird bald heraufkommen und mich hinunterhaben wollen, denn nun hilft kein Leugnen. Der Marquis hat mich gesehen, weiß, daß ich zu Hause und angekleidet bin.« Da stand auch schon unsere Frau Wirtin in der Stube. »Der Marquis wünscht Sie zu sprechen. Gehen Sie nicht hinunter, kommt er herauf; er hat einen deutschen Offizier bei sich.« »Wohl! Ich will kommen. Kommen Sie, liebe Mutter, gehen Sie mit!« Wir gingen und traten zu ihnen in die Stube. Sie grüßten uns sehr bescheiden und artig, und ich war ernsthaft, ohne Ziererei. Wir setzten uns, und meine Frau Wirtin, vergnügter hatte ich sie sonst nie gesehen als damals, wie sie Wein, Konfekt und vier Gläser auf den Tisch setzte. Der Deutsche führte das Wort, und der Marquis saß stille da, ohne ein Wort zu verstehen, seufzte und sah mich schüchtern an. So ein lieber, hübscher junger Herr er war, so fühlte ich doch in mir nichts als nur den Wunsch: »Wär' ich doch wieder weg!« Das Gespräch war vom Theater. Dem Marquis mußte nun die Zeit lang werden, und er sprach einige Worte, die dann der Deutsche verdolmetschte, nämlich: ich spräche so ein gutes Deutsch, daß der Marquis sehnlichst wünschte, sich von mir unterrichten zu lassen, so wie er mir im Französischen wollte Lektion geben. Meine Antwort: Dazu würde viel Zeit erfordert, und da ich täglich Briefen entgegensähe, die meine Abreise beträfen, so würde es auf die Zeit zu kurz und all die Mühe umsonst sein,[94] die man sich deswegen gäbe. Ich stand auf. Der Marquis spielte mit einer goldenen Dose und reichte mir eine Prise dar. Ich dankte und sagte: »Ich nehme keinen Tabak.« Und war in meinem Herzen froh, daß ich meine kleine hölzerne Dose nicht hatte aus der Tasche genommen, in der ich Tabak hatte. Nun, ohne einen Tropfen getrunken oder einen Bissen vom Konfekt gegessen zu haben, machte ich beiden Herren mein Kompliment und ging mit meiner guten Mutter wieder in unsere Stube.

War etwas nach 9 Uhr. Nun, hofften wir, würde der Marquis und unsere Frau Wirtin uns Ruhe lassen. Gesprochen hatte er mich, und daß er an die Unrechten gekommen, mußte er sehr dumm sein, wenn er das nicht merkte. Recht zufrieden über uns selbst, legten uns zu Bett. Doch welch ein trauriger Morgen. Meine Wirtin war den Tag darauf der Teufel selbst. Dummes, einfältiges Geziere! Keinen Bissen zu fressen und keinen Tropfen zu saufen! Ich schnupfte Tabak und hätte keine Prise wollen nehmen, da doch die goldene Dose für mich zum Präsent hätte sein sollen. »Aber Frau, woher weiß sie das? Sie war ja nicht in der Stube.« Sie suchte sich zu fassen und sagte: »Einer ihrer Söhne hätt's ihr gesagt, der hätte in die Stube gesehen, weil die Tür offen gestanden.« »Frau, warum will mir der Marquis goldene Dosen schenken? Nicht umsonst! Weiß er unsere Umstände und hätte er mir Gutes tun wollen ohne schlechte Absicht, so hätte er es anders anfangen müssen. So aber sage ich Ihnen, so arm und unglücklich ich bin, so bin ich doch zu stolz, um des Marquis Maitresse zu werden. Und weder er, noch sein Vater können mich bezahlen, und wenn ich auch betteln müßte. Und, Frau, schämen sollte sie sich, daß sie sich zu so was brauchen läßt.« Die Alte schäumte vor Bosheit; denn in der Jugend soll sie ziemlich den Schneider gekrönt haben; wenigstens warf er ihr es oft vor, wenn sie sich zankten. Nun legte sie sich aufs Kuppeln und mochte ihr leid genug sein, daß ihre Tochter so häßlich und noch dazu lahm war.

Nun frug sie, ob wir sie bezahlen könnten. »Nein! Sobald Briefe und Geld kommen, soll sie das Ihrige haben.[95] Ihretwegen kann ich keine Hure noch Diebin werden.« »Nun, so müssen Sie ausziehen, denn ich kann meine Zimmer und Betten teurer vermieten, als was ich von Ihnen bekomme; und wer weiß, wann Ihre Briefe ankommen. Also noch heute ziehen Sie aus, aber Ihre Sachen behalte ich zum Unterpfand.« – »Nein, Frau Zöllner, das geht nicht, wo unsere Sachen bleiben, da bleiben wir auch.« Die Debatten wurden arg. Endlich, da sie gar nicht hören wollte, drohte ich ihr, sie bei dem Bürgermeister zu verklagen und die Ursache zu sagen, warum sie nicht länger mit uns Geduld haben wollte. Nun zog sie gelindere Saiten auf. Doch mußten wir noch denselben Tag aus unsern Zimmern, und sie gab uns eine Küche im ersten Stockwerk, in der nicht gekocht wurde. Etwas Stroh an die Erde und ein paar Stücken Bett, das kaum verdient, Bett genannt zu werden, einen alten Stuhl, und der Herd war unser Tisch. Was von ihren Tellern übrig blieb, denn sie hatte offene Tafel, das bekamen wir oft um halb 3 oder 3 Uhr des Nachmittags mit Gemurre und Vorwürfen. Und daß wir dafür nichts bezahlen durften, tat meine Mutter dem Weibe Mägdedienste und half ihr in der Küche. Ich konnte keine andere Arbeit bekommen, als daß ich Strümpfe strickte. Aber was kam da viel heraus? Für ganz feine Mannsstrümpfe bekam ich einen halben Gulden.

Vier Wochen waren bereits verflossen, daß wir in der Küche zugebracht hatten, und noch kamen keine Briefe. Unsere Not war groß. Eines Mittags, da der Wein, wie die Glut vom Feuerherd, unserer Frau Wirtin das Gehirn wieder stark verbrannt hatte, fing sie mit meiner Mutter einen unbändigen Lärm an und wollte Geld haben. Mit Tränen ging meine Mutter aus der Küche und stand im Hause, wußte nicht, was sie anfangen sollte und trat in diesem Gedanken an die Haustür. »Ihr Diener, Madame,« redete sie ein Geselle aus der Apotheke, die uns gegenüber war, an. »Ich soll Sie grüßen von meinem Herrn und seiner Frau, und Sie möchten doch so gut sein und zu ihnen auf eine Tasse Tee kommen, aber womöglich gleich.« Meine Mutter sagte, sie wolle sich nur etwas ankleiden und gleich die Ehre haben, zu kommen. Sie kam zu uns in unsere chinesische Wohnung, wie[96] wir sie nannten der Luftigkeit wegen, kleidete sich an und ging fort.

Nach Verlauf von einer Stunde kam sie wieder. Ihr ganzes Gesicht versprach und brachte uns Trost. Das waren ungefähr ihre Worte: »Hört, Kinder, als ich zu den Apothekers kam, frugen sie mich nach dem ersten Kompliment: ›Wie geht es? Noch keine Nachricht von Doebbelin?‹ ›Nein, als daß er in Frankfurt sitzt und spielt in den Caféhäusern. Täglich hoffe ich, daß endlich Briefe kommen müssen. Nur befürchte ich, daß der Krieg schuld ist, wenn solche später einlaufen. Doch wenn diese Woche keine kommen, sollen meine Kinder wieder schreiben. Gott helfe mir fort und aus dem Haus dieser Leute! Sie würden mich nicht so um die Bezahlung drängen, wenn meine Tochter sich hätte an den Marquis verkuppeln lassen.‹ ›Madame Schulze, wir wissen alles. Unser Provisor stand in der Apotheke hinter einem Fenstervorhang und hat alle Bedingungen mit angehört, die der Marquis bewilligte, wenn er zu seinem Zweck gelange. Wir haben für Ihre Tochter gezittert und, um gewiß zu sein, wie sich Ihre Tochter und Sie dabei benehmen würden, bin ich mit meinen dicken Füßen (die Apothekerin litt an der Wassersucht) die drei Treppen hinaufgestiegen in die kleine Kammer, aus der man in Ihre Stube sehen kann. Ich sah Sie, wie Sie mit Ihrer Tochter hinausgingen. Gebetet habe ich zu Gott für Sie, aber wie freute ich mich, da Sie alle beide gleich nach 9 Uhr wiederkamen, sich auskleideten, Ihre weißen Fenstervorhänge zuzogen und sich zu Bett legten. Sie konnten mich nicht sehen, denn ich war ohne Licht, und ich gestehe Ihnen, daß ich solange in der Kammer geblieben, bis Sie sich beide niedergelegt und Ihr Licht ausgelöscht hatten. Als ich eben herunterkam, verließ der Marquis sehr verdrießlich mit dem andern das Haus.« Gleich am andern Tag wollte ich Sie zu mir kommen lassen; doch mein Mann sagte: »Laß uns noch warten! Wollen sehen, ob die Leute rechtschaffen bleiben!« Wir wissen alles, wie Sie behandelt werden, doch Sie sollen nicht mehr so viel leiden. Hier, Madame Schulze, haben Sie 30 Gulden! Zahlen Sie davon so viel, als Sie können, an Ihre Hausleute ab; ziehen[97] aus und lassen solchen einen Versatz nach. Ich und mein Mann sind alte, kränkliche Leute, Kinder haben wir nicht, wir verlangen von Ihnen keine Wiederbezahlung. Aber ausziehen müssen Sie; denn in dem Hause ist kein Segen. Wenn ein Gewitter ist, so denken wir immer, daß es da einschlagen müsse wegen dem gottlosen Fluchen, so man den Morgen bis an den Abend hört.‹ –

»Kinder, ihr könnt denken, wie mich der guten Apothekerin ihr Betragen gerührt hat. Aber ausziehen wollen wir. Wenn wir nur Wohnung hätten!« »Dafür, liebe Mama, lassen Sie mich sorgen! Da, wo Rinzingers (auch jemand von der Gesellschaft) gewohnt hat, das sind gute Leute.« Ich lief fort, sie waren nicht mehr in dem Haus, doch kundschaftete ich sie aus. Sie wären in eine kleinere Wohnung gezogen, hatten einen geräumigen Boden und auf demselben ein kleines Stübchen. Das mietete ich mit zwei Betten und gab dafür im Akkord alle Woche einen halben Taler. Kochen wollte nun meine Mutter selbst. 20 Gulden gaben wir unserm Herrn Zöllner, und für 40 Gulden, die stehen blieben, ließen wir ihm Versatz. Nun war das Schelmenzeug schon höflicher und trugen uns wieder unser Zimmer an, denn niemand war in den vier Wochen hineingezogen. Ich sagte zu ihnen: »Die Küche, in die Sie uns gestoßen, die ist mit dem Stroh, darauf wir lagen, mit einem halben Gulden bezahlt. Denn einen Gulden hatten wir fürs Zimmer mit den Betten gegeben. Sehen Sie, so haben wir zwei Gulden Vorteil, und Sie mit Ihrer Grobheit Schaden.« Die Rechnung war abgeschlossen, wir nahmen von ihnen einen schriftlichen Schein, der Sachen wegen, die wir da ließen zum Unterpfand, und zogen noch denselben Abend aus. Gott, wie wohl uns den Abend war, bei unserm Butterbrot, wie kann ich das beschreiben!

Nun faßte ich einen Entschluß, wo vielleicht mancher, der nicht denkt wie ich, die Nase rümpfen wird. Ich ging an einem Morgen zu der Frau von Eschenbrenner, damals ohne allen Streit die schönste Dame in Cöln. Ich wußte, daß sie mir gut war. Ich ging hin und wurde sogleich vorgelassen. Dieser schüttete ich mein Herz aus und bat sie, ob sie nicht für mich in einer Assemblee ein gut Wort einlegte, daß für[98] mich eine kleine Kollekte gesammelt würde. Die gute Dame küßte mich und sagte: »Nun sehe ich, daß Sie in der Tat das ehrliche Mädchen sind, wie man von Ihnen gesagt hat. Haben die glänzende Eroberung ausgeschlagen und wollen lieber eine Kollekte. Kind, bleiben Sie so! Noch heute fahr ich in Gesellschaft. Kommen Sie morgen früh um 9 Uhr wieder zu mir!« Ich stellte mich pünktlich ein, und sie überreichte mir drei Carolins. Gott, wie froh war ich! Und sagte mir: »Besuchen Sie mich, wann Sie wollen; bin für Sie immer zu Hause.« Voll Dank küßte ich ihr die Hand, die sie wegzog und mich in ihre Arme schloß. Mit Tränen, die die Dankbarkeit weinte, verließ ich ihr Haus, kam zu meiner Mutter und Bruder und brachte das Geld, sagte ihnen, wo ich's her hatte.

Nun war ich so boshaft und brachte immer so die Woche zwei oder drei Mal meinen alten Hauswirten zwei oder drei Gulden und ließ mir jedes Mal eine Quittung darüber ausliefern, denn da die Schuld bei Kleinigkeiten an Kost und Wohnung gemacht war, mußten sie's auch bei Kleinigkeiten annehmen.

Noch kamen keine Briefe! Ich gehe, um mich zu zerstreuen, von meiner Bodenkammer hinunter zu meiner Hausfrau. Da sehe ich, daß die sitzt und von weißer Leinwand Manns-Nachthauben und Hemden näht. »Was ist das für Arbeit?« »Ja, Mamsellchen, das arbeite ich fürs Lazarett, die bekommen die blessierten Soldaten. Für eine Mütze bekomme ich zwei Stieber und für ein Hemd 8. Das darf nicht fein genäht werden und trägt in der Summa was aus.« »Oh, liebe Hausfrau, will mitnähen, von Herzen.« »Morgen trage ich das fort, und da will ich ungenähte für Sie mitbringen.« Wer war froher als ich. Um 5 des Morgens stand ich auf und hatte am Abend meine 24 Mützen im Spielen gemacht, und vier, auch wohl sechs Hemden. Kurz, ich nähte mir des Tags meinen halben Taler, auch wohl zwei Gulden, wie nichts heraus. Was nun bei uns an Schuhen und Strümpfen aufgetragen war, wurde wieder angeschafft, und wir lebten nicht überflüssig, aber hatten doch unsere gute Suppe, Fleisch und Zugemüse und den Sonntag einen kleinen Braten.

1

Cölnischer Ausdruck für wahnsinnig.

2

W.H.: Ich muß es H. Doebbelin zum Ruhme nachsagen, daß er es verstand, junge, aufkeimende Talente nicht zu unterdrücken, ohngeachtet er eine sehr hübsche junge Frau hatte. Im Gegenteil, durch Lob, durch hübsche Rollen munterte er auf; und fehlte man, so war sein Tadel bescheiden, kein spitzfindiges Hohngelächter. Er freute sich selbst, wenn man es gut machte und Beifall hatte, und hatte keinen Familienneid. Auch seine Gattin nicht, welche eine liebenswürdige Frau war und nur 20 Jahre zählte. Sie wäre gewiß eine der ersten Schauspielerinnen geworden, wenn Gott sie nicht in ihrem 23. Jahr nach langen, geduldigen Leiden zu sich genommen. Ueber zwei Jahre hatte sie wenige gesunde Stunden. Man wußte bei Doebbelin gar nicht, was Neid war. Jeder bekam gute Rollen; jeder wußte, daß alle zum Ganzen gehörten. Auch mein Bruder würde durch die Aufmunterung, die er durch H. Doebbelin hatte, ebenso ein guter Schauspieler geworden sein, wie er durch seinen Fleiß ein guter Tänzer wurde. Schade, daß H. Doebbelin nicht mehr Glück hatte. Er verließ uns in Cöln gleich nach Osten im Jahr 1758 und ließ uns alle in der traurigsten Lage.

Koch hatte schon in den ersten Tagen des Juni einen Brief mit Engagement und mit der Frage, wie viel Vorschuß und Reisegeld wir brauchten, geschickt. Diesen Brief aber hatte er in einen anderen Brief an gewisse Leute eingelegt, denen er schrieb, er könne sie wegen des großen Vorschusses nicht engagieren. Jene bestellten den Brief nicht und reisten aufs Geratewohl zu Koch. [Das erfuhr die Verf. erst 1776, als sie ihren Bruder in Leipzig besuchte. 1767 war sie mit ihnen gemeinsam bei Koch. Damals verheimlichte man es ihr.]

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 87-99.
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