Reise nach der Schweiz.

[99] Endlich, an einem Sonntag, kommt mein Bruder in der Gesellschaft eines Herrn nach Hause, der Karl auf der Straße angeredet, ob er wohl Herr Schulze wär. »Ja.« »Ich habe an Ihre Mama und für Sie und Ihre Schwester einen Brief und Wechsel, der auf meines Herrn Contrair bei de Pösch zahlbar ist. Schon seit 8 Tagen ist der Brief bei uns, wir wußten Sie aber nicht zu finden, und es hieß, die ganze Gesellschaft wär fort.« (Wahr, alle waren fort, und wir saßen noch allein da. Machte, die meisten konnten zu Fuß fort, und wir konnten das nicht. Und ein paar Familien bekamen wohl Engagement, aber die Reise mußten sie auf ihre Kosten tun bis an Ort und Stelle, weil ihr Direkteur kein Geld noch Wechsel der Unsicherheit wegen ihnen senden wollte.) Der Brief also, den wir erhielten, war von Herrn Ackermann1, der sich in der Schweiz, und zwar in Zürich, aufhielt. Engagement für uns alle drei, die Woche neun Gulden, und 40 Gulden Reisegeld, doch sollte uns Herr de Pösch noch 10 Gulden zulegen, wenn wir nicht auskämen. Wenn wir erst in Straßburg wären, waren wir an Herrn Dr. Behr gewiesen, der uns dann weiter liefern sollte und uns zugleich sagen, wohin Ackermann mit der Gesellschaft gereist, der denn wahrscheinlicherweise nicht mehr in Zürich sein würde.

Wie gern wären wir sogleich abgereist! Aber da der Rhein wegen dem langen, anhaltenden Regenwetter so hoch angelaufen war, konnten wir nicht fort, und mußten bis in die dritte Woche warten, denn unsere Order war, wir sollten bis Mainz zu Wasser reisen. Endlich wagten sich wieder die Schiffer, zu fahren, und den 8. August2 verließen wir Cöln, nachdem ich noch allen meinen Wohltätern gedankt und meinen früheren Hauswirten derb die Wahrheit gesagt hatte.[100]

Acht Tage brachten wir bis nach Mainz zu. Die Fahrt war traurig, denn wer mußte nicht Mitleid fühlen bei dem traurigen Anblick, was der Ausbruch des Rheins alles verwüstet hatte! Nun in Mainz! Wo da Fuhre hernehmen? Die Post zu bezahlen, hatten wir nicht Geld genug, und eine Kutsche für uns, wer wollte uns die geben, ohne zum wenigsten die Hälfte voraus zu zahlen? Und wir hatten so eben Geld, um in den Wirtshäusern zur Not zu leben, denn auf Reisen kann man keinen Ueberschlag machen: »Nur so viel will ich verzehren.« Das kommt auf die Barmherzigkeit oder Unbarmherzigkeit der Wirte an. Zum Glück (wie Gott immer für die Seinen sorgt) trifft mein Bruder einen Kutscher, der von Straßburg zwei Heren nach Mainz liefern mußte, und der wollte den andern Tag leer nach Straßburg zurückfahren. Mein Bruder spricht mit solchem, sagt ihm geradezu, hier könnten wir ihm kein Geld geben, aber in Straßburg sollte es Herr Dr. Behr für uns bezahlen. Der Kutscher besann sich nicht lange (sah aber erst unsere Koffer an und wog solche, wie schwer sie sind, vielleicht auch der Pferde wegen). Wir trafen mit ihm einen billigen Akkord, und nachdem wir zwei Tage in Mainz geharrt, reisten wir am dritten Morgen gut und wohl fort. In Zeit von drei Tagen waren wir in Straßburg. Ein lustiger Kutscher und vier herrliche Pferde, zwei gut gepackte Koffer, wer hätte uns nicht für reiche Leute halten sollen? Und unsere Barschaft war kaum noch 11 Gulden. Dann fuhr er uns nach einem Wirtshaus, sprach mit dem Wirt vom Hause ein Weilchen heimlich, der uns dann doch höflich und freundlich willkommen hieß und uns ein Zimmer anwies. Keins von uns war neugierig, den Wirt zu fragen, was ihm wohl der Kutscher gesagt hatte.

Mein Bruder ließ sich nach des Doktors Behr Haus hinweisen und meldete sich, wer er wär. »Ach, kommen Sie endlich?« Mein Bruder sagte die Ursache. Es wurde ihm gesagt, er solle nur den Kutscher bringen. Karl holte solchen, der Kutscher wurde bezahlt, und wir bekamen den Abend noch unsere Koffer auf unser Zimmer. Nun wollten wir gleich den andern Tag fort, denn Herr Ackermann, hieß es, wär unter der Zeit in Schaffhausen gewesen, nun aber in[101] Winterthur. Die Frau Doktorin fand es für gut, um sich ein Sommervergnügen zu machen, mit uns in die Schweiz zu reisen. Mußten also noch einen Tag länger in Straßburg bleiben, und so fuhren wir wieder erst den dritten Tag alle vier ab. Die Frau Doktorin, die eine ganz eigene Portion von Narrheit besaß, machte uns die Reise bis zum Ekel beschwerlich. In jedem Städtchen und Dorf wurden die Diamant-Ringe, Hals-Granaten mit goldenem Schloß und die Repetier-Uhr vorgezeigt, daß die Wirte denn auch die Rechnungen danach machten. Wir wurden alle drei wie ihre Bedienten angesehen, und das nicht einmal! Denn sie erzählte jedem Bauern, daß der Herr Dr. Behr, ihr Mann, das Geld in Straßburg für unsere Fuhre von Mainz aus bezahlt, und daß sie uns jetzt zu Ackermann brächte und die Fuhre bezahlte, ohne dazuzusetzen, daß es ihr Ackermann wiedergeben mußte. Die Wirte trugen dem Gespräch gemäß auf, und wir mußten mitbezahlen, daß wir oft lieber uns mit wenigem beholfen hätten. – Kurz, die letzten Tage hatten wir keinen Heller mehr! Meine Mutter bat sie um Geld, aber bewahre! Wie hätte sie sonst noch mehr prahlen können, nun tat sie erst groß. Mein Bruder, um nur aus der Kutsche zu kommen, setzte sich zum Kutscher auf den Bock, dem er sagte: »Ich kann bei dem absurden Weib nicht länger aushalten.« Und ich hatte mir zum Vergnügen die Rolle der Iphigenia aus dem Trauerspiel gleichen Namens auf der Reise herausbehalten, um was zu tun zu haben. Habe solche freilich nicht durchgelesen, aber die Gegenwart der Frau Doktorin trieb mich nun dazu, um ihr nicht antworten zu dürfen, und meine Mutter schlief neben ihr. – Herrliche Reisegesellschaft! Ja, ich vergesse sie zeitlebens nicht. Traf es sich dann, daß mehr Reisende mit uns an einem Ort zusammentrafen, da war denn der Teufel gar in ihr. Der Herr Doktor Behr aus Straßburg war gewiß das dritte Wort. Manche lachten sie aus, und wir zählten alle Stunden und wünschten an Ort und Stelle zu sein, um ihrer los zu werden.

1

W.H.: Wenige Tage nach Ackermanns Engagement kam eins von Schuch.

2

W.H.: 10. August.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 99-102.
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