die wissenschaftliche Vorlesung.

[114] Es giebt eine Anzahl Vereine, welche es für ihre Pflicht halten, ihren Mitgliedern dann und wann einen ernsten Herrn an das Katheder zu liefern, der sie in ihnen fernliegende Gebiete führt und daselbst gewaltsam unterrichtet. Man besucht solche Vorlesungen, auch wenn man nicht unterrichtet sein will, denn es steht vortrefflich aus.

Hat man kein Talent, sich zu vertiefen, so besuche man solche Vorlesungen, um es zu lernen, da man nicht weiß, wie man es eines Tages nützlich verwenden kann. Jedenfalls ist es gut, sich den Anschein zu geben, als lausche man mit lebhaftem Interesse, und hierin erlangt man in wissenschaftlichen Vorlesungen eine schöne Übung.

Versteht man in solcher Vorlesung jedes Wort ganz deutlich, so lege man trotzdem die rechte Hand an das rechte Ohr, um der Umgebung zu zeigen, wie aufmerksam man folge und wie ängstlich man fürchte, ein einziges Wort zu verlieren.

Versteht man von dem vorgetragenen Thema nichts, so sei man nicht trostlos. Man ist nicht der einzige. Man sage sich alsdann zur Beruhigung, daß der Vortragende altes verstehen wird.

Dann und wann mache man Notizen, wozu man Taschenbuch und Bleistift mitbringen muß. Man schreibe einige gleichgültige Worte, da es sich nur darum handelt, daß man schreibt.

Um das Gähnen zu kachieren, schneuze man sich mit einem größeren Taschentuch.

Will man sich eine Gefälligkeit erweisen, so frage man den Vortragenden am Schluß der Vorlesung,[114] ob sein Vortrag im Druck erschienen sei, oder wann er erscheinen wird. Bei der herrschenden Unlust, Bücher zu kaufen, weiß man dann wieder den Titel eines Buches, das man nicht kauft.

Hat man Lust, mehr Damen zu sehen, als man in wissenschaftlichen Vorlesungen zu sehen bekommt, so besuche man eines der modernen Warenhäuser. Sonst unterlasse man solchen Besuch.

Kann man es sich leisten, so mache man, wenn die Saison in der Großstadt besonders interessant wird, eine


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 41906, Bd. I, S. 114-115.
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