Als ich dem geehrten Leser – ich habe überhaupt noch keinen ungeehrten Leser gesehen – meinen Leitfaden durch den Winter in die Hand gab, merkte ich sofort, daß er einer der überflüssigsten Leitfäden war, welche die Kataloge der Bibliotheken namhaft machen. Es war mir nämlich nicht möglich, auch nur einen einzigen Leser aufzutreiben, welcher mir offen oder unter dem bekannten Siegel der Verschwiegenheit mitteilte, der Leitfaden habe ihm irgend etwas genützt, und ich mußte mich in die Überzeugung finden, daß ich die vielen nutzlosen, um nicht zu sagen nichtsnutzigen Dinge, welche ich publiziert habe, um ein neues wertloses, wenn nicht bereichert, so doch vermehrt hatte. Jeder Leser wußte nämlich schon alles, was ich in meinem Leitfaden sagte. Der beste Rat, den ich gab, war billig. Man nahm jeden Fingerzeig mit einer Miene hin, als wollte man sagen: »Wer kennt den nicht, den habe ich selbst schon erteilt.« Jeder hatte jedes erlebt und genau so gethan, wie ich zu thun empfahl, denn jeder erklärte, alle meine Erfahrungen selbst gesammelt, alle meine Ratschläge selbst ausgeteilt, alle meine Betrachtungen selbst angestellt zu haben. Das war eigentlich nicht tröstlich, und am allerwenigsten konnte es mich ermuntern, meinen Leitfaden weiter zu spinnen. Es ist doch nicht die Aufgabe des Schriftstellers, nichts als ein Echo zu sein, jedenfalls muß es ihn mehr reizen, wenigstens als Souffleur zu fungieren. Als solchen konnte ich mich aber nicht betrachten, wenn ich nicht jeden berechtigen wollte, das Gerücht zu verbreiten, daß ich vom Größenwahn befallen sei.[1]

Wenn ich dennoch den Leitfaden durch den Sommer da anknüpfe, wo ich den durch den Winter atropossenhaft durchschnitten habe, so hat dies, wenn ich nicht irre, folgenden Grund. Ich muß nämlich, um gegen die geschätzten Leser und auch gegen mich gerecht zu sein, feststellen, daß mir jeder versicherte, er habe meine Zeilen, mein Elaborat, mein Werkchen, meine Aufsätze u.s.w. mit großem Vergnügen gelesen, wenn er auch, wie gesagt, nichts Neues daraus erfahren habe. Aber die Form, in der ich alles zu Papier gebracht, sei eine so gefällige – ich wähle in angeborener Bescheidenheit das geringste Epitheton – gewesen, daß er das ihm längst mundgerecht gewesene Bekannte gern gelesen habe. Dies wurde mir aber mit so großer Eindringlichkeit versichert, daß ich nicht umhin konnte, anzunehmen, man wolle nur nicht willig eingestehen, daß ich viele oder doch manche neue und nützliche Lehre veröffentlicht hatte, denn dies Eingeständnis konnte doch nur so aufgefaßt werden, daß man irgend eine weise Lebensregel nicht gekannt, nicht aus eigenen Erfahrungen herausgebildet, sondern sie der Lektüre meines Werkchens zu danken habe.

Man will von einem Schriftsteller unterhalten, aber nicht belehrt sein. So viele mir auch von dem Leitfaden durch den Winter sprachen, so viele haben mir auch gesagt, sie hätten ja nichts neues gelernt, aber sich doch gefreut darüber, daß ich das alte, ihnen längst bekannte zu Papier gebracht. Das hat mich ermuntert, mein Versprechen einzulösen und den besagten Leitfaden durch den Sommer fortzuspinnen.


Ich glaube, ein Leitfaden durch den Sommer kann nützlicher werden, als der durch den Winter. Das Sommerleben ist bunter und reicher gestaltet, als das[2] Leben im Winter. Die Kälte scheint das Leben im Winter zusammenzuziehen, die Wärme das Leben im Sommer auszudehnen. Der Mensch bewegt sich im Sommer freier, ungebundener, als im Winter, in welchem er doch meist zwischen vier Wänden lebt. Das Leben ist im Sommer öffentlicher, ich möchte sagen: genialer, während es im Winter intimer, eingeschränkter, ich möchte sagen: philiströser ist. Man ist im Sommer leichter zu Ausschreitungen geneigt, zu Excessen verführt.


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 1-3.
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