Extrazüge

[69] einen ziemlich hervorragende Platz ein. Die Extrazüge, Sonderzüge genannt, werden von den Eisenbahnverwaltungen lediglich im Interesse des reiselustigen Publikums eingerichtet, um ihre ohnehin großen Einnahmen zu erhöhen.

Sie sind immer sehr überfüllt, gewähren dem Reisenden kein Freigepäck, behandeln ihn selbst wie ein[69] Stück Gepäck, verbilligen die Reise nur um ein Geringes und werden vom Publikum zum Vergnügen benutzt.

Man stelle sich mit großer Pünktlichkeit auf dem Bahnhof ein, nämlich eine halbe Stunde vor der angekündigten Abgangszeit, um mit aller Bequemlichkeit nicht an den Schalter heranzukommen und nicht in den Besitz einer Fahrkarte zu gelangen.

Hat man dann endlich eine der letzten Fahrkarten erwischt, so beeile man sich, in den Waggon zu kommen, um, da dieser bereits überfüllt ist, einen anderen Waggon zu suchen, in welchem gleichfalls kein Platz vorhanden ist.

Nun wende man sich an den Schaffner, wenn man ihn gefunden hat, und lasse sich von diesem zu den vorderen Waggons schicken. Hier wende man sich an den Schaffner, wenn man ihn gefunden hat, und lasse sich von diesem zu den hinteren Waggons senden. Daselbst wende man sich an den Schaffner, wenn man ihn gefunden hat. Von diesem wird man zu den mittleren Waggons befohlen.

Hat man diesem Befehl Folge geleistet, so steige man in einen bereits besetzten Wagen, lasse sich von dem Schaffner hinaus- und in einen anderen Wagen hineinschieben, woselbst man Platz nimmt.

Hier wird gewöhnlich bereits gesungen, da man zwischen die Mitglieder einer Sängertafel geraten ist, aus welchem Grunde man gleichfalls einen Schluck aus der kreisenden Flasche nimmt und mitsingt.

Da, wie Seume behauptet, wo man singet, man sich ruhig niederlassen soll, weil Bösewichter keine Lieder haben, so sei man nicht außer sich, wenn man sehr zusammengepreßt wird und andere Unannehmlichkeiten erdulden muß. Denn die Reisegefährten haben Lieder, sind also keine Bösewichter und meinen es nicht so böse, wie sie aussehen.[70]

Es giebt Menschen, welche einen Extrazug benutzen wollen, aber zu spät auf dem Bahnhof eintreffen und nur noch den Zug fortsausen sehen. Dies aber sind besonders begnadete Menschen, Sonntagskinder oder Glückspilze, und wenn man zu einer dieser drei Sorten gehört, so kommt man gar nicht auf den Gedanken, einen Extrazug benutzen zu wollen.

Man habe bei sich, was man braucht, um Hunger und Durst zu stillen, denn auf den wenigen Stationen legt der Extrazug seine Eile nicht ab, und wenn man nicht sehr stark ist, kommt man nicht an das Büffet heran oder nur dann, wenn alles verzehrt ist.

Verrät die Cigarre eines Extrazüglers durch ihren Duft, daß sie entweder eine Rabbi oder eine Mönch sei (s. Heinrich Heine: Disputation, letzte Strophe), so lobe man sie und frage den Raucher, woher er das köstliche Kraut beziehe. Denn er würde die Wahrheit, daß man durch den Gestank einer Ohnmacht nahe sei, als eine persönliche Beleidigung auffassen, und man hätte eine Extrazuginjurie, eine besonders schmerzhafte, zu befürchten.

Ist auf der Fahrt viel getrunken worden, so trete man unter irgend einem Vorwand auf den Gang und bleibe daselbst bis zum Ende der Reise stehen. Denn wenn einem Gegenübersitzenden schlecht wird, so wird er wahrscheinlich am andern Morgen wieder ganz hergestellt sein, aber man muß doch nicht von allem haben.

Wird man von der Gattin eines gleichfalls nicht ganz nüchternen Extrazüglers etwas gefragt, so antworte man nicht, da seitens des Gatten eine Antwort mißverstanden und als Versuch, die Frau zu einem Treubruch zu verleiten, aufgefaßt werden könnte, was zu peinlichen Auseinandersetzungen führen würde. Man schone also die Empfindlichkeit des Mitreisenden, dessen Fäuste man sich bei dieser Gelegenheit nicht zu flüchtig ansehe.[71]

Stimmen die Extrazügler »die Wacht am Rhein« an und niemand kennt den Text der sechs Strophen außer dem der ersten, so mache man darüber keine abfällige Bemerkung, denn man kennt ihn selber nicht.

Ist man mit Reisegeld gut versorgt und kommt mit einem elegant gekleideten Extrazügler in ein Gespräch, in dessen Verlauf man von diesem eingeladen wird, sich seiner Führung am Ziel der Fahrt anzuvertrauen, so kann man gar nicht so viel Reisegeld bei sich haben, als man im Kümmelblättchen verliert, zu welchem man von dem Herrn animiert werden wird.

Macht man die angenehme Bekanntschaft einer alleinstehenden Extrazüglerin, welche Verwandte besuchen will, von denen sie nicht am Bahnhof erwartet wird, sich aber dennoch erbitten läßt, die Begleitung bis zur Stadt anzunehmen, so wird man sie nicht wieder los, da sie sich auf dem Wege zur Stadt entschließt, ihre Verwandten nicht aufzusuchen, sondern lieber mit ihrem Begleiter zu speisen und mit ihm ins Theater zu gehen. Wird man dann zum Abschied von ihr umarmt, so halte man eine Hand am Taschenbuch, in welchem man das Reisegeld hat, und die andere Hand an der Uhr. Was man dann vermißt, ist nicht so wertvoll.

Ist man am Ziel der Reise angelangt, so prahle man namentlich in Wirtshäusern nicht mit dem Hinweis darauf, daß man mit dem Extrazug eingetroffen sei. Denn dies ist nicht nur keine Eigenschaft, mit der man prahlen kann, sondern man würde auch bei den Kellnern keines Ansehens genießen, da der Extrazügler im allgemeinen als ein Freund ökonomischer Lebensführung gilt, der z.B. im Trinkgeldgeben von Prinzipien und Vorurteilen geleitet wird.

Will man im Hotel nicht mit Begeisterung empfangen[72] werden, so fahre oder gehe man direkt nach der Ankunft dahin und bitte um ein Zimmer. Der Hotelwirt erwartet die Extrazügler schon seit gestern mit einer gewissen Furcht.

Beginnt man


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 69-73.
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