Einsamkeit

[75] aufsuchen, indem sie sie als ein unabweisbares Bedürfnis empfinden. Sie streben sie an und finden sie wohl auch, aber dann ist es nicht die Einsamkeit.

Goethe läßt seinen Harfenspieler singen: »Wer sich der Einsamkeit ergiebt, ach! der ist bald allein.« Dies ist indes in Zweifel zu ziehen. Keinenfalls ist der lange allein. Selbst wenn ein Harfenspieler sich der Einsamkeit ergiebt, so thut er dies in der Überzeugung, bald nicht mehr allein zu sein, so wenig man verlangen mag, zu den Zuhörern zu gehören. Aber auch, wenn man nicht Harfenspieler ist, darf man überzeugt sein, daß es eine schwere Aufgabe ist, eine Einsamkeit finden und genießen zu können.

Hat man das seltene Glück, einen echten Einsiedler aufzutreiben, so wird man dahinterkommen, daß man einen sehr geselligen Herrn kennen gelernt hat, der auch, wenn man ihm etwas giebt, sehr mitteilsam wird. Er empfängt Besuch aus der Umgegend und ist außer sich, wenn solcher ausbleibt, denn er haßt die Menschen nur, wenn sie nicht da sind, weil er von ihnen und nicht von Heuschrecken lebt. Das Heuschreckenessen ist eine Fabel, der Einsiedler pflegt ein Feinschmecker zu sein.

Wer es mit der Einsamkeit ernst meint, wird sie natürlich finden, um dann bald einzusehen, daß er in das Gegenteil geraten ist.

Schon bei der Ankunft in der Einsamkeit lernt man die Wirtsleute und deren Verwandte als biedere Menschen kennen, welche Anschluß suchen, während des Winters viel allein waren und sich freuen, nun jemand gefunden zu haben, mit dem sie sich aussprechen können. Dies beginnt schon am ersten Abend.[75]

Da der Ort, in welchem man sich der Einsamkeit erfreuen will, so schön gelegen zu sein pflegt, so wird er von vielen Passanten gestreift, unter denen man Bekannte findet, die man nicht verletzen will und daher bittet, einige Zeit zu verweilen, wodurch die Einsamkeit angenehm belebt wird.

Befinden sich unter diesen Passanten Männer, welche gleichfalls die Einsamkeit aufsuchen, so ist der Skatpartie die Bahn geebnet.

Der Einsame sei anderen Einsamen gegenüber möglichst taktvoll und zwinge sie nicht, länger zu bleiben, als sie ihre Einsamkeit zu unterbrechen wünschen. Man sage sich, wie man selbst beurteilen würde, wenn jemand allein zu sein wünscht und es nicht durchsetzen könnte, einen Besuch zu beenden.

Man wird die Einsamkeit besonders angenehm finden, wenn man den Besuchern in irgend einem Kartenspiel ziemlich viel abgewinnt. Gewinnen dagegen die Besucher, so werden diese die Einsamkeit ihres Freundes verwerfen und ihm versprechen, morgen wiederzukommen.

Taucht im Laufe der Unterhaltung bei dem einen oder andern die Idee auf, einen Klub der Einsiedler zu gründen, so trete man diesem nur unter der Bedingung bei, daß man ohne weitere wieder austreten könne, wenn sich mehr als fünfzig Mitglieder zusammenfinden und infolgedessen der Lärm zu groß wird.

Findet man, daß die ländliche Einsamkeit durch die Gesellschaft zu eintönig geworden, so unternehme man in der tiefsten Verschwiegenheit eine Fahrt in die nächste größere Stadt und steige daselbst unter fremdem Namen in einem Hotel ab, aber nur dann, wenn man das schauspielerische Talent hat, sich zu verleugnen, falls man beim Eintreffen sofort erkannt und begrüßt wird, was nicht zu vermeiden ist.[76]

Ist man verheiratet und hat allein die Einsamkeit aufgesucht, so teile man vor der Abfahrt in die größere Stadt der Gattin mit, daß man sich daselbst nur so lange aufhalten werde, als nötig ist, ihr etwas aus der Einsamkeit mitzubringen. Dies wird zwar nicht geglaubt, versöhnt aber zugleich.

Mit der weiblichen Bedienung der Einsamkeit kann man nicht vorsichtig genug sein, da sie durch vorangegangene Einsamlinge schon gewitzigt zu sein pflegen.

Ist man Radler, so nehme man das Zweirad nicht in die Einsamkeit mit, da der Zweiraddieb aus der Umgegend dahin zu kommen pflegt.

Will man eine ganz ernsthafte Einsamkeit schaffen, so schildere man dem ersten Besucher eine finanzielle Krisis, in der man sich befinde, und fordere ihn auf, zu ihrer Hebung beizutragen. Dies verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und bald wird kein Mensch mehr die Schwelle des Einsamen überschreiten, wenn man keine Gläubiger hat.

Eine Hauptsache für das persönliche Behagen ist und bleibt


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 75-77.
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