die neue Wohnung,

[81] dem der des Umzugs vorangeht, welcher mit Recht allgemein gefürchtet ist wie Diphtherie und Gerichtsvollzieher.

Seit Eva und Adam sich gezwungen sahen, das Paradies zu verlassen, also seit den Uranfängen der Geschichte der Menschen hat sich der Wohnungswechsel als Teil des Fluches, den die ersten Menschen auf sich geladen, fast unverändert erhalten. Das erste Menschenpaar hat infolge eines Kontraktbruchs – es sollte nicht vom Baume der Erkenntnis essen und hat es dennoch gethan – den Garten Eden meiden müssen, und Kain ist infolge seiner Unthat unstät und flüchtig geworden. Das Paradies ist verloren gegangen, das[81] Feigenblatt hat sich zur Garderobe erweitert, an die Stelle des Verbots, von einem gewissen Baum zu essen, sind Mietskontrakte mit zahlreichen Paragraphen getreten, aber die Ziehzeit ist geblieben und sie bringt den Menschen die herbsten Enttäuschungen und Verluste wie die Lotterieziehzeit. Wer nicht Hauseigentümer ist, weiß das. Wer nicht Hauseigentümer, ist wenigstens Nomade. Der Hauswirt hat mehr als ein Mittel zur Verfügung, die Familie in dem Augenblick, wo sie sich am wohlsten und am sichersten geborgen fühlt, an die Zugluft des Nomaden- und Zigeunerlebens zu setzen, welches häufig durch das nach unsäglichem Suchen gefundene neue Obdach nur eine kurze Unterbrechung erleidet. Der freundlichste, ruhigste, bescheidendste und im Mietezahlen prompteste Christ wird zum ewigen Juden, wenn dies dem Vermieter gefällt, der ihn mit seiner ganzen Familie auf das Pflaster setzt und seine Habe dem Abbrennen preisgiebt, welches dem Umzug deshalb vorzuziehen ist, weil der Ziehende gegen Feuerschaden versichert zu sein pflegt. Und es giebt Hauswirte, welche das Kündigen wie einen unterhaltenden Sport betreiben, dessen Amusement sie, so oft es ihnen beliebt, durch Steigern zu steigern vermögen.

Ist der Mieter, einerlei, ob er freiwillig oder gezwungen, seine Wohnung aufzugeben oder durch eine andere zu ersetzen hat, übermütig, so wird er durch das Suchen von diesem Übel befreit werden.

Hat er Zeit, so wird er sie mit Hilfe des Durchlesens der Zeitungsrubrik »Zu vermieten« auf die einfachste Weise und meist resultatlos loswerden.

Hat er keine Zeit, so muß er sich solche nehmen, oder, wenn er verheiratet ist, seiner Frau befehlen, die nötige Zeit zu haben, auch wenn die Frau sie nicht haben sollte.

Haben Gatte und Gattin durch ungesühnt gebliebene[82] Sünden und Vergehungen den Zorn der ewigen Gerechtigkeit auf sich geladen, so werden sie ihn durch das Besehen zu vermietender Etagen erst beschwichtigen und schon nach achttägigem, unausgesetztem und nutzlosem Besehen völlig in das Gegenteil verwandelt haben.

Machen sie sich auf das tägliche Besteigen von dreitausend Stufen gefaßt, so dürfen sie sich darauf gefaßt machen, daß sie sich in ihrer Rechnung um mindestens tausend zu ihrem Vorteil verrechnet haben.

Wenden sie sich wegen einer leerstehenden Wohnung um Auskunft an den Wirt, oder den Portier, und rühmt jener oder dieser sie als außergewöhnlich gut bewohnbar, so können sie überzeugt sein, daß sie außer anderen Übeln auch Wanzen hat und im Winter nicht zu erwärmen ist.

Wenden sie sich wegen einer noch bewohnten Etage um Auskunft an deren Bewohner und erklären diese sie als eine mit allen Nachteilen der Neuzeit ausgestattete, so ist den Wohnungssuchern zu raten, diese Etage zu mieten. Denn die Bewohner dieser Etage sind natürlich die Feinde des Hausbesitzers, der als solcher wie alle Vermieter keine Freunde unter den Mietern hat, und jeder Mieter sucht ihm zu schaden, indem er die Wohnungssucher abschreckt.

Hat man das Glück, auf einen liebenswürdigen Hauswirt zu stoßen, so freue man sich sehr, weil der Hauswirt in seiner Zuvorkommenheit gestatten wird, daß man alles zur Verbesserung und Verschönerung der Räume vornehmen lassen kann, was man aus eigener Tasche bezahlt. Auch wird man darin, während an dieser Verbesserung und Verschönerung gearbeitet wird, vom Hauswirt niemals gestört werden.

Man hat als Wohnungssucher noch andere Freuden. Hat man Kinder und wird man deshalb vom Wirte abgewiesen, so freue man sich, daß man kein Kind[83] dieses Wirtes ist, sondern eines Mannes, der zu gleich ein Mensch ist, also nicht herzlos, nicht dumm und kein Knote. Ist solcher Hauswirt kinderlos, so freue man sich gleichfalls und zwar der Kinder wegen, die dieser Barbar und Philister nicht hat, denn wie er kinder-, so wären die Kinder vaterlos.

Wird die Wohnung im Inserat oder vom Wirt als ruhig empfohlen, so finden sich in dem betreffenden Hause vier Klaviere, welche lange nicht gestimmt sind. Nach näherer Untersuchung des Hauses sind es aber fünf. Es können freilich auch sechs sein. Vor einigen sitzen täglich junge Mädchen, welche nicht singen können, aber es trotzdem thun, weil ihnen von schadenfrohen und feigen Hausfreunden fortwährend versichert wird, sie seien Gesangssterne erster Güte. Trotzdem vertreibt dieser Mißsang das im Hause befindliche Ungeziefer nicht, weil es sich allmählich an dieses musikalische Geklapper gewöhnt hat.

Versichert der Wirt, die Wohnung sei gänzlich mäusefrei, so schaffe man sich einen Rattenfänger oder eine Katze an, oder, wenn dies nach dem Mietekontrakt nicht gestattet sein sollte, eine Falle, womöglich mit Dampfbetrieb.

Am Tage vor dem Umzug blicke man tief gerührt auf alles, was morgen den Weg in die neue Wohnung antritt. Es wird wohl nicht alles vom Erdboden verschwinden, an dessen Besitz man sich gewöhnt und gefreut hat, ja, es wird wohl nichts vom Erdboden verschwinden, aber wie wird alles in der neuen Wohnung ankommen! Die furchtbaren Männer, welche mit dem Riesenkrankenwagen erscheinen, um die irdischen Reste der Wohnung fortzuschaffen, haben zwar versprochen, mit der peinlichsten Sorgfalt zu verfahren, aber manches wird trotzdem bis zur Unkenntlichkeit geschont in der neuen Wohnung wiedergefunden werden, und es wird lange dauern, bis von der lieben Wirtschaftseinrichtung die[84] traurigen Spuren der Vorsicht, mit der der Umzug bewerkstelligt worden ist, wieder verschwunden sind. Es giebt zwar Umzüge, welche sich vorzüglich vollziehen und auch nicht ein kleines Hausratsstück zerstören oder in Verlust geraten lassen, aber man sieht bald ein, daß es sich immer um die Umzüge Anderer handelt.

Wer vorsichtig sein will, gebe den Leuten, welche den Umzug vollstrecken, keinen Schnaps. Sie haben ihn schon, und zwar bedeutend mehr, als die Möbelwagenladung vertragen kann.

Gatten, welche so verheiratet sind, daß sie einen Vorwand brauchen, wenn sie ausschweifen wollen, erklären ihren Frauen mit verdroffenem Gesichtsausdruck, daß sie bis zur Herstellung der neuen Ordnung nur im Wege seien, wenn sie daheim blieben. Die Frauen werden der Männer Niederträchtigkeit sofort erkennen und ihr verlogenes Urlaubsgesuch sofort bewilligen, bei dieser Gelegenheit aber von den Neuanschaffungen und Ergänzungen, welche die Einrichtung der Wirtschaft in der neuen Wohnung nötig mache, sprechen. Diese werden natürlich zugestanden, da die Männer sonst zu hören fürchten: »Aber was fällt dir ein! Du stehst garnicht im Wege. Im Gegenteil, du kannst dich sehr nützlich machen, indem du mir wenigstens zwei Arbeiter und eine Scheuerfrau ersetzest.«

Erblickt die Hausfrau eine Wanze, so töte sie sie, ohne diesen Lustmord zu bereuen und indem sie ausruft: Hoppla, das fürstliche Ehepaar Llow sieht's ja nicht!

Den Nachbarn mache man Visiten, um sie kennen zu lernen und dann allen ferneren Verkehr mit ihnen zu vermeiden. Sie werden aus demselben Grunde die Visite am nächsten Sonntag erwidern. Alles andere, den Verkehr nicht in Gang kommen zu lassen, besorgen die Dienstmädchen auf den Hintertreppen.[85]

Wer die Mängel seiner Wohnung gründlich kennen lernen will, warte ruhig die Besucher ab, welche kommen, die Bewohner zu ihrem neuen Heim von Herzen zu beglückwünschen. Namentlich die Damen werden schon nach flüchtiger Besichtigung alle Fehler, welche die Etage hat und welche sie nicht hat, hervorheben, um alsdann ihre Kritik gründlich zu motivieren. Sie werden von hohen Zimmern behaupten, sie könnten niedriger, und von hellen Stuben, sie könnten heller sein. Dagegen werden sie die niedrigen Zimmer ungemütlich hoch und die dunklen Stuben unheimlich hell finden. Und kurz und gut: die Wohnung ist geradezu entzückend, und den neuen Mietern ist aufrichtig herzlich zu gratulieren.

Über den Umgang mit den Handwerkern, welche man zur Erneuerung der neuen Wohnung bestellt hat und die versichert haben, in aller Pünktlichkeit zu erscheinen, würde sich Bestimmtes nur mit großer Leichtfertigkeit sagen lassen, da die Handwerker nicht zu erscheinen pflegen, wenn man sie an dem Tage erwartet, an welchem sie zu erscheinen bestimmt zugesagt haben. Morgen heißt in ihrer Zeitangabe immer fünf bis sieben Tage später, und wenn ein Zimmer am achten dieses Monats fertig tapeziert sein soll, so wird am neunten ganz sicher mit dem Tapezieren begonnen, so daß man am zehnten mit ziemlicher Sicherheit auf den Anfang rechnen kann, wenn inzwischen der Generalstrike der Tapezierer nicht ausgebrochen sein sollte.

Wer abends nicht ohne Beleuchtung sein mag, sorge jedenfalls, wenn ihm versprochen worden ist, daß in einigen Tagen die Gas- oder elektrische Leitung fertiggestellt sein solle, zu den dann folgenden Tagen für einen reichlichen Petroleumvorrat.

Hat man gesunde Nerven, so sei man darauf gefaßt, daß sie bei Gelegenheit des Umzugs um einige Grad gesünder sein müssen.[86]

Wer dann, wenn alle diese Leiden glücklich überwunden sind, eines Tages in seinem Briefkasten einen Brief des Hauswirts findet, welcher mit einer Höflichkeit, die einer besseren Mitteilung würdig wäre, ankündigt, daß nach reiflicher Überlegung der Preis der Etage nach Ablauf des Kontraktes um nur einige hundert Mark höher zu bemessen sei und mit achtungsvoller Ergebenheit um eine baldige freundliche Entschließung gebeten werde, da sich bereits mehrere Reflektanten um die fragliche Etage bemüht hätten, so vermeide es der Adressat sorgfältig, in den nächsten Tagen mit einem Stock auszugehen, da er doch dem Hauswirt auf der Treppe oder sonstwo begegnen könnte. Auch ist die Lektüre der auf körperliche Mißhandlung bezüglichen Paragraphen auf das Wärmste zu empfehlen.

Zu den außergewöhnlichen Tagen des Hausstandes ist auch der Tag zu rechnen, an welchem


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1902, Bd. III, S. 81-87.
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