Vorrede.

Das gegenwärtige Anstandsbüchlein ist zunächst und in erster Linie für das Volk geschrieben, und will seinen, wenn auch bescheidenen Teil zur Hebung und Förderung der Volksbildung beitragen. Man könnte nun fragen: Wozu braucht denn das Volk die Regeln des Anstandes und der Höflichkeit kennen zu lernen? Die mögen wohl in den Salon und in die sogenannte gebildete Gesellschaft passen, das Volk aber soll nicht damit behelligt werden, es kommt mit seinem »guten Herzen« und etwas natürlichem Taktgefühl schon durch. Darauf antworten wir: Anstand und Höflichkeit sind nicht nur für die höheren Stände erfunden, sondern auch für die bürgerliche Gesellschaft. Die Beachtung der äußeren Umgangsformen ist, wie wir an anderer Stelle nachweisen werden, unbedingt notwendig im täglichen Umgang, notwendig und sogar sehr notwendig im geschäftlichen[3] Verkehr. Es ist ja eine nicht zu leugnende Thatsache, daß unsere Zeit mit ihren gewaltigen Fortschritten auf allen Gebieten der menschlichen Thätigkeit auch an das gewöhnliche Volk, z.B. an die Handel- und Gewerbetreibenden ganz andere und viel höhere Anforderungen stellt, als frühere Zeiten. Gerade der Handels- und Gewerbestand, wie nicht minder der Landmann, hat heutzutage mit einer riesigen, den Einzelnen beinahe erdrückenden Konkurrenz zu kämpfen. Mit Geschäftskenntnissen allein würde er gegen diese Konkurrenz unmöglich aufkommen können; es muß zum Wissen und zu den Kenntnissen noch etwas anderes kommen und das ist eben die Beobachtung der gesellschaftlichen Umgangsformen, das ist eben jenes anständige, höfliche, gefällige Benehmen, wodurch der Mensch sich dem Publikum empfiehlt.

Neben tüchtigen Geschäftskenntnissen ist freilich das erste und wichtigste eine gute, reine Gesinnung und ein ehrbarer, unbescholtener Wandel, das heißt mit anderen Worten wahre Geistes- und Herzensbildung. Aber auch damit gleicht der Mensch erst einem ungeschliffenen Edelstein. Hat er unhöfliche, unanständige Manieren, so wird diese Geistes- und Herzensbildung durch sie verdunkelt; kommt aber hierzu eine richtige Lebensart, das heißt eben Anstand und Höflichkeit, dann erst strahlt der[4] Edelstein in hellem Glanze. Diese äußere Bildung und Wohlanständigkeit verstärkt den guten Eindruck, den ein mit wahrer Geistes- und Herzensbildung ausgestatteter Mensch macht, sie hebt ihn hervor, empfiehlt auf den ersten Augenblick und bahnt so dem Menschen den Weg zur Achtung und zum Zutrauen anderer.

Das vorliegende Büchlein möchte nun dem freundlichen Leser sagen, worin die genannten äußeren Formen des Anstandes und der Höflichkeit bestehen, und mochte ihm eine Anleitung geben, wie er sich dieselben aneignen kann und wie er sie bethätigen soll, indem es ihm die Grundregeln der Wohlanständigkeit in den einzelnen Vorkommnissen und Lagen des täglichen Lebens vorführt; aber nicht nur das, es möchte ihm auch zeigen, wie er seine Herzens- und Geistesbildung durch die Beobachtung des äußeren Anstandes noch vertiefen und vervollkommnen kann, indem es immer davon ausgeht, daß aller Anstand und alle Höflichkeit ruht auf dem Goldgrunde unserer heiligen Religion und daß der äußere Anstand gar nichts anderes ist, als die fortwährende praktische Ausübung es uns vom göttlichen Heilande selbst gegebenen Gebotes der christlichen Nächstenliebe.

Der ganze Inhalt des Büchleins ist auf diesem einen großen Gebote der Liebe aufgebaut. Kaum wird eine Verhaltungsmaßregel[5] vorkommen, deren Grund nicht Liebe, Demut, Bescheidenheit und Achtung für den Nebenmenschen ist; und wir beginnen deshalb auch mit dem Benehmen in religiöser Beziehung. Wie groß und ehrwürdig ist der Mensch in Verbindung mit Gott und mit der Religion, und wie tief kann er herabsinken, wenn man ihn ohne Gott darstellt! Wenn daher dieses Büchlein nicht nur die starren Formen des äußeren Anstandes bespricht, sondern auch so manches bringt, was man eher im Katechismus suchen würde, so geschieht dies eben aus dem doppelten Grunde, dem freundlichen Leser, der eines guten Willens ist, zu zeigen, wie er durch Anstand und Höflichkeit in seinem Benehmen nicht nur sein zeitliches Fortkommen sichern, sondern auch, wie er zu Gott kommen kann, dem zuliebe der gute, religiöse, wohlerzogene Mensch die Regeln des Anstandes ausübt.

Mit dieser Aufgabe möge die bescheidene Arbeit unter Gottes Schutz und Geleite hinausgehen und recht vielen Nutzen stiften.


Donauwörth, im Oktober 1894.

Der Verfasser.[6]

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 3-7.
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