Auf den Philippinen

[110] Dienstag, 10. Mai.


Um halb fünf Uhr wurden wir glücklich herausgerüttelt; es war noch halb dunkel, und die Träume hingen schwer herab, so daß es schon der Energie bedurfte, um gleich aufzustehen; erleichtert wurde dies nur durch das unerhörte Hahnengekrähe draußen, wovon die ganze Luft zu vibrieren schien. Ich habe nie etwas Ähnliches gehört. Wir packten schnell unsre paar Sachen und fuhren gleich ab mit einem Wagen nach der Stelle, wo der Flußdampfer hält; dieser soll uns zunächst nach Calamba am großen Binnensee oder Lagune, wie er hier allgemein heißt, führen. Der Morgen war einfach göttlich; die Luft ist hier schöner als irgend, wo wir zuvor waren. Die Landschaft sah ganz entzückend aus: rechts und links vom schmalen Fluß erhoben sich die zarten Bambushaine, unterbrochen von Bananenpalmen und Dörfern, vor denen Frauen mit roten Kleidern und nackte Kinder stehen, und dazwischen Kirchen, die, an und für sich häßlich, doch mit ihren geraden abgegrenzten Linien gegenüber diesem lieblichen Wirrwarr wohltätig wirken. – Die Fahrt wurde immer reizender. Ein endloser Bambuswald erschien, davor eine Heide mit den lieben dicken Carabaas, und ganz in der Entfernung[110] tauchten blau majestätische Berge auf, von denen einer uns durch seine herrliche Form besonders auffiel; es war, wie wir später erfuhren, der erloschene Vulkan Banahao, den wir morgen ganz in der Nähe sehen sollen. Nachdem wir durch einen Hain von Bambus gefahren, sahen wir die Lagune vor uns, vom Norden bis Südosten von Bergen begrenzt. – Anfangs ist das an und für sich häßliche braune Wasser sehr seicht, und man sieht Fischer im Wasser stehend ihre Netze auswerfen. Zwei Reihen Pfähle müssen eine lange Strecke dem Schiffe die Richtung weisen. Je näher wir den Bergen kommen, um so mächtiger und schöner wurden ihre Linien. Von Norden ragt eine Halbinsel tief herein, welche den See in zwei Hälften teilt.

Bald nach dem Essen kamen wir in Calamba an, das noch in der Ebene, aber nahe an einem waldreichen Berge liegt. Mit vielen Philippinern und einigen Tschung-Kwoks wurden wir in ein Übersetzboot gestopft, das, mühsam gerudert, nach einigen Minuten an den sandigen Strand gelangte. Dort harrten, halb im Wasser, die zweirädrigen Caramatas, bespannt mit zwei Ponys; wir zwei stiegen in eine, Antonio mit unsern Handkoffern in eine andre. Nun ging's los! – weiß es der Himmel, was nämlich! nach drei Schritten das erste Pony, welches schlecht angebunden war. Als es glücklich angeflickt war, begann die Fahrt; eine Fahrt, die uns zwei in vollständige Mazeppas verwandelte! Über Stock und Stein, über Felsen, Abhänge, Berge hinauf in rasendem[111] Galopp sausend, brausend, hinunterfliegend, daß unsre Köpfe aneinanderstießen; das Pikkolo heulte, die Bratschen col legno hackten an uns, die Posaunen rannten wild staubaufwirbelnd am Boden dahin, das Becken peitschte und zerschmetterte unsre Glieder – so wirbelten wir dahin! Aber auch uns erschien das herrliche Bmoll-Thema: eine Vegetation tat sich auf an jenen Abhängen des Berges, wie wir noch nichts Ähnliches gesehen; der Sonnenvogel flog umher, flamingoähnliche weiße Vögel in großen Horden flogen von den Wiesen auf, alles lebte ringsherum, tausend Vögel zwitscherten und sangen ihre chromatischen Gänge, ein Gewirr von Schlingpflanzen umschlang die mächtigen Bäume, die wirren Sträucher, Düfte durchwoben die Luft, in der Ferne glänzte sonnenbeschienen der See – kurz, es war göttlich und sollte immer schöner werden – doch da sausten unsre Viecher weiter, der Kutscher sah uns erstaunt an, wenn wir so in die Luft flogen, nachdem er eben einen ganzen Felsen hinuntergefahren. Nach anderthalbstündiger Hetzjagd gelangten wir nach Los Baños; wie wir ausstiegen, konnten wir leider nicht das et se relève roi ausführen, sondern wie zwei Beckmessers hinkten wir daher und waren froh, im Hotel auf einen Stuhl uns niederzulassen. Allmählich gewannen wir unsre Sinne wieder, besonders als diese Höllensöhne von Kutschern uns betrügen wollten. Das Hotel liegt hübsch am See in der Nähe des kleinen Ortes Los Baños, dessen verfallene kleine Kirche wir von unserm Zimmer sehen konnten.[112] Anschließend an das Hotel sind die heißen Quellen, die im Januar bis April viel von den Spaniern in Manila benützt werden. – Wir nahmen unsre eine Caramata und fuhren denselben Weg, den wir gekommen waren, fünf Minuten zurück; dann bogen wir links ein. Vor uns lag der schöne Berg in nächster Nähe; zwei Vorsprünge zu unsern beiden Seiten bildeten, tief bis an den Hauptberg sich windend, eine hohe, zuerst ziemlich breite, dann immer schmaler werdende Schlucht. Uns ahnte etwas Gewaltiges, und es überkam uns ein Gefühl, das halb Neugierde, halb Scheu vor dem war, was wir erleben sollten. Im Dunkel der Schlucht herrschte eine geheimnisvolle Stille, nur schwach vernahm man das Rauschen des Baches, der dort entspringt und der Lagune sich zuwendet. Wir näherten uns, stiegen aus dem Wagen und gingen den steinigen, erst steilen, dann sich plötzlich senkenden Weg; wie wir gerade an der Senkung anlangten, gewannen wir den ersten Anblick des Baches und der darüber links sich erhebenden Felsenwand, an der sich von dem Spiegel des Wassers an bis zur Höhe eine toll üppige Vegetation hinanrankte. Gleich dieser erste Eindruck war so gewaltig und so überraschend neu, daß, als es beim Weitergehen immer unerhörter ward, als wir uns mitten in dem tropischen Urwald befanden, wie er nur in Brasilien sonst sein soll – als wir diese nie geahnten Wunder einer über alles Maß reichen und schönen Naturgewalt sahen – daß uns fast nichts übrigblieb, als mit Mühe Tränen zurückzuhalten,[113] Tränen der dankbaren, das Übermenschliche anbetenden Wonne! Wir vermochten kaum zu sprechen; unsre Stimmung war, wie wenn wir eines der Werke hören, oder wie damals, als ich die Parthenonreste in London sah – alles schien sich in uns aufzulösen; alles schwieg in uns, außer jenem Gefühle, das uns selbst schon wie zu Schlingpflanzen verwandelte, sehnsüchtig an urheiligen Stämmen hinaufwachsend. Wollte ich schildern, was alles unserm Auge erschien, wie elend dürftig würde es ausfallen: Wie das ernst Erhabene der Bäume, das wollüstig Schmeichelnde der Schlingpflanzen, das entzückend Spielende der Tausende von bunten neuen Schmetterlingen, wie das alles, befruchtet von dem rauschenden Bache und den dicken Regentropfen, sich zu einem bestrickenden Ganzen verband: wie oft der Bach ganz verschwinden muß, weil die Farrenbäume und Fächerpalmen ein tiefgesenktes Dach über ihm bilden; wie dann wieder die Bambusstauden über dem Wässerchen hängen, teils zerknickt, von ihm bespült werden; wie von den Bäumen an der Krone neue Stämme abwärts wachsen, oft den Boden nicht erreichend, da sie einen andern Zweig gefunden, an den sie sich klammern können; wie die frechen Parasiten und Orchideen die ehrwürdigsten Stämme des Saftes berauben! Von allen Seiten drang diese Pracht auf uns ein, so daß es öfters ganz dunkel wurde. Der Schlampigkeit der Spanier muß man danken, daß sie alles so ganz der Natur überlassen haben; die Stege über das Wasser[114] bestehen aus Bambusrohr, auf dem man hinüberbalancieren muß.

Je weiter wir vordrangen, desto deutlicher vernahmen wir das Rauschen des Wasserfalles; als das Tal eine Ecke bildete, wurden wir ihn gewahr. Von einer hohen glatten, ganz grün mit Schlingpflanzen bewachsenen Felsenwand stürzte der an und für sich dürftige Bach hinab und bildete unten ein Becken, hell wie Kristall. Die Bäume bildeten ein vollständiges halbes Amphitheater darum; ihre Wurzeln hatten sich an Steinen festgeklammert, die das Wasser nur ungern durchließen. Oben ragte zaghaft der Himmel herein, der doch auch sein gut Teil an diesen Wundern vollbracht hatte. Wir hätten schreien mögen! so schön, so unbegreiflich schön war alles, was wir sahen! – Doch die Komik sollte auch hier nicht fehlen: oben, neben jenem Wasserbecken, erblickten wir fünf Pfaffen, die eben daran waren, sich zum Bade auszukleiden oder zu trocknen. Erst waren wir wütend, dann mußten wir lachen, denn der Anblick dieser neugierig nach uns guckenden, dabei sich doch verstecken wollenden Hochwürden war wirklich urkomisch. Unser Kutscher, der uns zu Fuß gefolgt war, sprang auch gleich ins Wasser und forderte uns ebenfalls dazu auf; doch waren wir zu erhitzt, hauptsächlich durch unsern Enthusiasmus, so daß unsre mühsam erworbene Besonnenheit siegte. Wir wären gern lange an dieser Stelle verweilt, doch Lachen und Schwätzen in diesen Tempelhallen verletzte uns zu sehr;[115] wir kehrten um, immer wieder uns umdrehend, weil wir kaum glauben konnten, daß dies war, und daß wir es wieder verlieren sollten. Wirklich, wir hatten nicht die Empfindung, als sei dies alles wirklich; wir mußten es uns immer wieder vergegenwärtigen, daß wir im fernsten Osten im Äquatorlande, auf den vulkanischsten Inseln uns befanden; daß es also wirklich mit rechten Dingen zuging, und daß nur wir armen Apfelpoesieländler eben diese Zauber nicht mit vollen Sinnen fassen konnten.

Langsam gingen wir zurück; oft auf einen Stein uns niederlassend und ganz poetisch werdend, dabei Wasser mit der Hand schöpfend, die Kräuter untersuchend, Schmetterlinge bewundernd, kurz, glücklich uns fühlend. Ach, Mutterleben und mes dames mes soeurs! warum könnt ihr das nicht sehen? Wie anders hätten wir's noch mit euch genossen! Es klappt halt nie alles! Seid nur des einen sicher, daß sich mein Herz so weit geöffnet hat, um die Wunder würdig zu erleben, daß es beinahe so groß ward, wie eurer aller Herzen! Wie ungern trennten wir uns von dem eben Erlebten; wir trödelten noch lang hin und her, auf die schönen Vögel horchend, – dann gingen wir zum Wagen zurück, entschlossen, nochmals hierhin zurückzukehren. Als wir aus der Schlucht an die Tageshelle zurückkehrten, blendete uns der See entgegen, die Sonnenvögel strahlten, alles war in das leuchtendste Gold getaucht.
[116]

Mittwoch, 11. Mai.


Wir fuhren durch die Hauptstraße von Santa Cruz und hielten vor dem Kommandantenhause, an das ich von Zobel eine Empfehlung hatte; an Carabinieris vorbei gelangten wir in den Salon des Don Carlos Villalba, welcher groß, luftig und mit einigen maurischen Anklängen eingerichtet war. In diesem Kommandanten, der uns jetzt entgegenkam, lernten wir den ersten Spanier kennen, der uns wirklich außerordentlich gefiel; es war ein Andalusier, ein hübscher, junger, mittelgroßer Mann mit dunklem Schnurrbart und lockigem Haar. Er war unglaublich höflich, dabei sehr gründlich und ernsthaft; er wiederholte unserm Antonio ungefähr sechsmal das, was er zu tun habe, warnte uns sehr vor den Betrügereien, denn alle seien hier »des voleurs«. – Er brachte uns dann Bier, während er selbst einen Zettel schrieb, den er Antonio mitgab; er war an Feliça in Pagsanyan gerichtet, in deren Haus wir diese Nacht bleiben sollten. Da er niemand sonst dort kenne, müsse er uns an sie empfehlen; trotzdem warne er uns vor ihr, sie sei auch »un voleur«. – Nachdem wir so von allem auf das genaueste unterrichtet waren, verabschiedeten wir uns von Don Carlos, der uns seinen Wagen nach Pagsanyan gab und uns einlud, wenn wir morgen nach Santa Cruz zurückkehrten, bei ihm zu übernachten. Diese liebenswürdige Erfahrung mit dem Kommandanten hatte uns in beste Stimmung versetzt: endlich ein Ehrenmann unter dieser Lumpenbagage! und heiteren Mutes[117] gingen wir Feliças Betrügerbude entgegen. Da im Wagen nur drei Platz hatten, kutschierte Clement; sei es, daß er das Pferd nicht kannte oder daß das letztere an schlechter Laune litt: zuerst ging's immer im Zickzack, und vor allem wußte das Tier sich nicht zu entscheiden, ob es Trab oder Galopp laufen sollte, was die haarsträubendsten Synkopen zur Folge hatte, bis es sich endlich aufraffte und anständiger lief, so daß wir die Gegend bewundern konnten. Die Straße führte fast ununterbrochen durch die üppigsten Kokospalmenwälder; rechts und links lagen häufig Hütten, vor denen Kinder, Hühner und Schweine sich tummelten. Auf der Straße selbst war ziemlich reger Verkehr, viele Ponys, beladen, gingen in langen Zügen an uns vorbei, um in Santa Cruz ihre Waren abschütteln zu können. Dazwischen kam immer wieder einmal ein Chinese, Frauen mit roten Röcken und so weiter. Nach halbstündiger, recht heißer Fahrt waren wir am Tor von Pagsanyan angelangt, durch das wir fuhren. Die breite Hauptstraße des Dorfes schloß sich daran und endete vor einer ziemlich großen Kirche mit Kuppel und Turm. Die Häuser sahen sehr hübsch und sauber aus, und die Perlmutterfenster geben dem Ganzen etwas Leichtes und fast Elegantes. An der Fassade hängen sie gern eine Reihe von Glaslaternen auf, die aber fast nie benützt zu werden scheinen.

Am Kirchplatz bogen wir links in eine Straße ein und befanden uns nach einer Minute vor einem kleinen Stoffladen: der Wagen hielt, wir stiegen aus, es war Feliças[118] Haus. Wir gingen in den Laden, vernahmen aber, daß Feliça eben ausgegangen sei – so benützten wir denn die Zeit, bis sie kam, um den Laden ein bißchen zu durchstöbern. Eine ältere, aber ihr Alter noch verbergende Frau, die sich dadurch auszeichnete, daß sie beständig die schwersten Zigarren rauchte – wie ja überhaupt das Zigarrenrauchen unter den Frauen auf diesen Inseln Sitte ist, wenn auch nicht immer in dem Maße, wie diese es betrieb –, staunte uns an, begann dann ein tiefes Gelächter, wenn wir irgend etwas auf spanisch sagen wollten. Wir guckten die Stoffe an, und was sonst noch da auslag, dann wurden wir hinaufgeführt.

Als Treppe diente eine breite Bambusleiter, die knarrte und sich bog, während man hinaufging; sie führte zu einem großen Vorzimmer, wo ein Baldachinbett stand; daran schloß sich der eigentliche Salon mit den üblichen acht großen am Fenster sich gegenüberstehenden Stühlen, wo wir uns denn auch gleich niederlassen mußten. An den Wänden hingen geschmacklose spanische Öldrucke, gestickte Bilder, die nicht gerade sehr anständig waren, und sonstiges dummes Zeug; den Hauptschmuck und Stolz des ganzen Hauses bildete eine Harfe, die mitten im Zimmer stand; außerdem war noch ein alter Harmoniumklimperkasten an einer Wand aufgestellt. Neben diesem Salon, der Gasse zugewandt, lag das Schlafzimmer Feliças; die Frau mit der Zigarre zeigte es uns und bedeutete, daß wir heute nacht dort Unterkommen finden würden. Ein hübsches Baldachinbett[119] stand in einer Ecke, daneben ein kleiner Waschtisch; an diesen schloß sich an der andern Wand eine Kommode, auf der mehrere Madonnen und Heilige standen, denen zu Ehren ein Öllämpchen brannte.

Nachdem wir unsre Bewunderung über Feliças Gemach ausgesprochen hatten, setzten wir uns wieder und warteten auf die Donna. Nach einigen Minuten erschien sie: eine kleine Gestalt, gehüllt in eine gelbe karierte Pineabluse und roten, langschleppenden Rock; ihr Kopf, etwas vorwärts hängend, hatte zwei besondere Merkmale: stechende kleine schwarze Augen und einen furchtbaren Mund, dessen Unterlippe wegen ihrer Fleischfülle gar zu ungern die obere berührte, was noch durch beständiges Schwätzen und Lachen erschwert wurde. Das Beste an ihr waren die Haare, was sie – in ihrer namenlosen Koketterie – recht gut wußte; denn sie ließ sie herunterhängen und über die Schulter fallen, sie spielte mit ihren Fingern darin herum und nahm sie dazwischen auch in den Mund, wenn sie über Gott weiß was wieder zu lachen hatte. Sie war noch ziemlich jung und erzwang sich Jugend auf alle Weise auch für kommende Jahre; ich habe selten eine so von sich bewußte Dame gesehen. Die Sicherheit der Schönheit war ihr in höchstem Maße gegeben; sie glaubte es auch sicher, hübsch zu sein, und sie gilt dafür im ganzen Dorfe; ja, sie scheint eine Berühmtheit zu sein. – Nachdem Antonio ihr den Zweck unsres Hierherkommens gesagt hatte, wandte sie sich an uns, reichte uns die Hand und gab[120] dann den Dienstboten Order für unser Mittagessen. Sie selbst verschwand in ihr Zimmer, kleidete sich um und passierte dann in einem Negligee den Salon, um, wie sie uns feierlich melden ließ, ins Bad zu gehen, das sich unten im Haus befand. Was diese feierliche Ankündigung bedeutete, ist nicht so leicht zu erklären und niederzuschreiben; jedenfalls wurde uns klar, daß sie sich für die Schaumgeborene hielt. Sie kehrte wieder zurück in einem violett und weiß gestreiften Schleppkleide, die Haare noch naß in wilder Auflösung um die Schultern fließend. Sie blickte uns an, als wollte sie sagen: »Na, was sagt ihr jetzt dazu?« und wir riefen ihr »Buena, boa« und so weiter zu, was von ihr mit einem lauten Gelächter beantwortet wurde. – Bald erschien sie wieder und setzte sich neben mich, Clement gegenüber. Nun begann eine Konversation, die nicht leicht ihresgleichen finden wird. Die Frau mit der Zigarre hatte sich auch in der Nähe aufgestellt, und nun begannen diese Weiber, sobald wir ein spanisches Wort äußerten, ein wahres Höllengelächter; Feliça brüllte geradezu, und man mußte weit im Dorfe ihre Stimme hören. Wir machten dazwischen unsre deutschen Bemerkungen und mußten unsrerseits hell auflachen über diese verrückten Weiber und über die ganze Komik unsrer Situation; so dauerte diese Konversation unter beständigem Geplatz fast über drei Viertelstunden. Dazwischen wurde Feliça einmal ernst, ließ Antonio kommen, um uns ihre folgenden Fragen zu übersetzen; sie habe nämlich die Absicht, eine[121] Reise nach Europa – natürlich allein – zu machen. Zuerst wolle sie nach Spanien, dann England und Deutschland; nun wolle sie wissen, wie teuer das Billett hin sei, wieviel der Tag in London koste und so weiter. Nachdem wir ihr Bescheid gegeben, schien sie über nichts erstaunt; daß das Ganze Quatsch war, und daß sie von Europa so viel wußte wie wir zuvor von den Philippinen, hatten wir natürlich gleich heraus. Nach diesem Andantesatze ging das Lachallegro wieder los und dauerte, bis wir der Kühle halber in ein neues Zimmer unten gingen, wo eine Art Weinladen eingerichtet war.

Unterdessen wurde oben das Essen vorbereitet; man roch die Mangos durchs ganze Haus; ihr Geruch ist gerade nicht angenehm. Außerdem vernahm man die letzten Rufe armer Hühner und ahnte Zwiebel und Öl. Endlich meldete die Frau mit der Zigarre das Mahl, und wir gingen hinauf in das große Vorzimmer, wo für uns zwei gedeckt war. Das Essen war recht gut, wenn auch dazwischen das Fleisch etwas fremdartig duftete. Es begann mit einem herrlichen Omelette mit Zwiebeln und endete mit Fisch, wie dies hierzulande Gebrauch ist. Dazu tranken wir spanischen Landwein, Tinto genannt. Den Schluß bildeten die Mangos, mit denen es einem komisch geht: oft liebt man sie sehr; dann wiederum wird die weichliche Süßigkeit einem zuwider. Die Frau mit der Zigarre wartete auf und zeigte uns eine neue bedeutsame Eigenschaft: daß sie nämlich à tout prix zuschlagen muß; war's nicht die große melancholische[122] dünne Dogge, die ihr dazu Gelegenheit gab, so hatte einer der Buben irgend etwas Ungeschicktes begangen, was von ihr sofort mit Begeisterung aufgegriffen wurde: sie hieb ihm paar tüchtige um die Ohren, und wenn jener heulend abgegangen war, erging sie sich in einem unausgesetzten Geschimpf, welches jene Schuld erörterte und ihre Ohrfeige als eigentlich noch viel zu schwache Strafe darstellte. So hatten wir denn wieder unter Gelächter unser Essen beendet, wir ruhten einen Augenblick aus, rauchten und beschlossen dann, nach den Katarakten von Pagsanyan uns aufzumachen, zu deren Besichtigung wir diese ganze Tour gemacht hatten. Zuerst mußten wir noch leichte geflochtene Strohpantoffeln kaufen, da wir viel auf spitzen Steinen herumkraxeln sollten; außerdem setzte Feliça jedem von uns einen Strohhut mit enormer Krempe auf, zum Schutz gegen die Sonne. Sie gab Antonio eine Büchse mit Biskuits und ein Glas für uns mit. So machten wir uns denn auf, unter dem Jubel des ganzen Feliçahauses; sie selbst stand oben und zeigte platzend ihren Mund; die Frau mit der Zigarre stand unten und lachte tief.

Es war zweieinhalb Uhr nachmittags: die Sonne brannte vertikal herunter; doch waren wir geschützt und hatten nur wenige Schritte zu machen, um an das Ufer des bisher noch nicht sichtbaren Flusses zu gelangen. Wir waren wieder ganz hingerissen von diesem Anblick: zu beiden Seiten des Flusses, der nicht breiter ist als der Main bei Würzburg, erhoben sich sanfte Anhöhen, unten[123] bedeckt von einem Saum der entzückendsten Bambusstauden, deren Rohre, weit nach vorn sich biegend, oft gebrochen sind und in wildem Durcheinander vom Wasser bespült werden. Dahinter sieht man die Kronen der Kokospalmenwälder, deren ganz verschiedenes Grün durch die daraufscheinende Sonne wie mit einem silbernen Hauch übergossen war. – Wir mußten jeder in eine der Bancas einsteigen, winzige, längliche Boote, aus einem Stück Holz geschnitten, die ebenso wie die Grönländer furchtbar leicht umkippen; in jedem saßen zwei Eingeborene, welche mit kurzen kreisrunden Rudern das Boot rasend schnell vorwärts bewegen. Wir saßen sehr vorsichtig darin und trauten uns kaum zum andern hinüberzugucken; wie zwei Buddhas, unbeweglich, mit gekreuzten Beinen, riefen wir uns nur begeistert zu, wie schön es sei, und schrieen, wenn herrliche Vögel erschienen. Das Gleiten durch das Wasser war entzückend, oft unter den Bambuszweigen hinweg, auf denen die herrlichen Fischreiher in ihrer blauen Pracht sich wiegten.

Die Landschaft änderte sich bald, und aus einer anmutig schwelgenden ward eine erhaben ernste; es kam die erste Stromschnelle; wir mußten aussteigen, über spitze Steine weitergehen bis zu einer Stelle, wo das Wasser wieder in ruhigem Laufe hinabströmte und wohin die Bootsleute die beiden Bancas auf den Schultern trugen. Hier war die große Veränderung der Landschaft: vor uns waren hohe, senkrecht herabfallende Felsenwände, an denen sich, was kaum zu glauben[124] war, dennoch eine himmlische Vegetation anklammerte. Die Bananenbäume streckten ihre Wurzeln nach allen Seiten, um sich irgendwo festhalten zu können; auf kleinen Felsabsätzen hatten sich Palmen und andere festgesetzt, feuchte Schlingpflanzen bedeckten von oben bis unten die Wände, die seltensten Orchideen wuchsen da, kurz, wo nur eine halbwegs mögliche Stelle war, da ging gleich dieser Zauber los. – Der Fluß machte eine energische Wendung, erst nach links auf kurze Strecke, dann wieder geradeaus, gezwungen von der gegenüberliegenden, nun neu hinzukommenden Felsenwand, seinen Lauf zu ändern. Jetzt waren wir in den Engpaß angelangt, in dem uns wohltätiger Schatten umfing. Man konnte tief hineinschauen, und der Anblick war ganz gewaltig großartig; den Himmel sah man oft kaum, da oben auf den kolossalen Felsen die Bäume weit herüberhingen und die Wände oft selbst einwärts geneigt erschienen. Das Wasser war schon bedeutend schmaler als bei Pagsanyan, aber viel tiefer. Wir kamen nun an die zweite Stromschnelle. Diesmal brauchten wir nicht auszusteigen; unsre Bootsleute ließen sich ins Wasser, das ihnen an diesen Stellen höchstens bis zum Leib ging, und sie zogen uns durch die seichten, aber stark strömenden und brausenden Stellen: hier mußte man natürlich gewärtig sein, einmal reinzufliegen, und offen gestanden hätten wir es gern erlebt. Doch kamen wir noch trocken davon. An den Mauern sahen wir mehrere von den Sguanas heraufklettern, und was uns besonders[125] interessierte, waren zwei große Schlangenlöcher in den Felsen. Oh, was hätten wir darum gegeben, eine dort herauskommen zu sehen! Ich ließ durch Antonio den Bootsmann fragen, ob man nicht durch Steinwerfen oder mit einer Stange eine reizen könnte, daß sie herauskäme; doch der Mann erwiderte, er würde es nicht um fünfzig Dollar tun, denn es seien kolossale Tiere, wahrscheinlich, wie ich später erfuhr, Boa constrictors, deren es noch mehrere auf dieser Insel gibt. Der Anblick dieser Löcher hatte etwas unheimlich Anziehendes, und ich mußte immer wieder hingucken. Es folgten nun häufige Katarakte, bei denen wir entweder aussteigen mußten oder von den Leuten hinaufgezogen wurden. Als wir am sechsten angelangt waren, behaupteten die Leute, sie könnten nicht weiter: es seien Bambusstauden und Gott weiß was noch alles in den Fluß gefallen; da dies natürlich eine Lüge war und wir vom Kommandanten von Santa Cruz über alles unterrichtet waren, bestand ich darauf, daß wir noch weiterführen, indem ich mich auf Don Carlos berief, was meinem Wort doch Gewicht gab; sie holten die Boote her, und wir stiegen ein, um noch weiter in dieser erhaben göttlichen Natur zu weilen.

Wir fuhren noch zwei Stromschnellen weiter – es mochten die siebente und achte gewesen sein – als wir von oben herabstürzend einen kleinen kristallhellen Wasserfall erblickten. Wir waren ganz entzückt, hielten an, und ich zog mich vor allen den guten Eingeborenen, die mich da auf das ungenierteste beobachteten, aus und sprang in[126] das herrliche tiefe Wasser; nach einiger Zeit folgte auch Clement, und wir stimmten die Rheintöchtergesänge an. Wir hatten unsre Pantoffeln beim Schwimmen anbehalten, weil wir immer dazwischen auf einen Stein im Wasser stießen; jeder von uns verlor einen; Clements wurde wiedergefunden, meiner war verschwunden. Ich schwamm bis zum Wasserfall hin und ließ mir von ihm eine kalte Dusche geben. – Dann setzten wir uns dazwischen auf einen erklommenen Stein und fühlten uns als Thomaschen Proteus. Vom Himmel kamen jetzt tüchtige Regentropfen herunter, und es donnerte und blitzte häufig, was sich hier großartig ausnahm; in Santa Cruz, wie wir später hörten, hatte dieses selbe Gewitter furchtbar gewütet. Wir merkten nicht sehr viel und es hinderte uns nicht am Weiterbaden; während Clement sich trocknete, setzte ich mich mitten in eine Stromschnelle; das Wasser riß mich tüchtig, doch ich siegte, indem ich einen natürlichen Sitz fand, wo ich mich dagegenstemmen konnte und das herrliche Wasser über die Schultern sausen ließ. Beim Trocknen machte ich es wie damals in Singapur: ich benützte meine Unterjacke dazu, die mir diesmal noch einen viel wichtigeren Dienst leisten mußte: ich benützte sie nämlich als Schuh, da ich den einen verloren hatte. Zum Staunen und Verwundern der Eingeborenen wickelte ich Herrn Schiebels Produkt ein paarmal fest um den Fuß und konnte auf diese Weise herrlich über die spitzesten Steine hüpfen.

Nachdem wir von Feliças Zwieback gegessen und der[127] Regen nachgelassen hatte, machten wir uns zur Rückfahrt auf; da wären wir denn auch wirklich oft beinahe aus unsern Bancas geflogen, und Clement passierte dies einmal, wobei seine eine ganze Seite naß wurde; wir sausten die Stromschnellen hinab, über Stock und Stein, wie die Caramatas, und wenn wir atemlos am Ende angelangt waren, erkundigte sich einer nach dem andern, ob er hineingefallen. – In der Nähe der Schlangenlöcher machten wir halt, da einer der Bankéros einen Felsen hinaufklettern wollte, um seltene Parasiten herunterzuholen. Er tat dies mit großer Geschicklichkeit, denn der Felsen ging senkrecht hinauf, und er mußte sich an den Ästen der herausspringenden Bäume halten. Wir warteten unterdessen an einer schmalen Stelle, wo wir ausgestiegen waren, um von der kleinen Quelle, die dort entsprang, zu trinken. Sodann fuhren wir weiter. Wir hatten die hohe Gasse verlassen, und vor uns lagen wieder die entzückenden Wälder, die jetzt, bei der Abendbeleuchtung, besonders der Saum der Bambusstauden, mich in der Färbung an Corots Bilder erinnerten.

In der Nähe von Pagsanyan hielten wir nochmals an; unsre Bootsleute wollten uns ihr Bad zeigen: ein kleines Häuschen über einer warmen Quelle; sie hüpften alle hinein mit ihren Anzügen, als hätten sie nicht schon genug herumgepantscht den ganzen Tag. Von da fuhren wir zum Dorf und stiegen aus. Feliça und die andre empfingen uns wieder mit Gelächter und Geschrei: wir gingen hinauf und wechselten unsre Anzüge, da wir[128] ziemlich naß und schmutzig geworden waren. Dann tranken wir eine Flasche Bier und warteten im Salon bis zum Abendbrot, mit dessen Vorbereitung das ganze Haus beschäftigt schien; besonders Feliça, denn sie war ganz verschwunden, was unsern Nerven sehr angenehm war. Das Diner kam, wieder im Nebenzimmer, das mit einer Lampe schwach erleuchtet war. Die brave dürre Dogge erhielt paar gute Brocken von uns, wofür sie dann von der Frau mit der Zigarre ein paar Schläge erhielt; dasselbe Los hatte abermals einer von den Buben, weil er das Brot zu spät brachte. Sie schlug und schimpfte, und als wir lachten, begann sie auch zu lachen, doch nur auf einen Augenblick; dann ging das Schimpfen und Rauchen wieder los. Das Diner dauerte ziemlich lang, und Feliça hatte zu viel hergerichtet. Feliça war während des Diners nicht anwesend, doch hörten wir durch die andre Frau, daß sie abends zum Tanze gehen werde und daß wir doch mit sollten. – Wir waren aber müde und sollten den nächsten Morgen um sechs Uhr auf sein, außerdem war es uns nicht ganz klar, was sie mit diesem Tanze meinte; denn als wir nicht gingen, ging auch sie nicht. Wir zogen es vor, noch etwas im Orte herumzubummeln, der ziemlich dunkel, nur an einigen Stellen belebt und hell war, wo Chinesen ihre Läden hatten.

Wir wanderten über eine schmale unglaubliche Bambusbrücke nach dem andern Ufer eines Seitenflusses von dem, welchen wir heute hinaufgefahren sind. Dann zurückkehrend, gingen wir die Hauptstraße entlang, wo[129] jämmerlich auf einem Klavier zerhackt uns die Wilhelm Tell-Ouvertüre entgegentönte. Von da kehrten wir ins Haus zurück, wir fanden Feliça in ihrem Laden, in eleganter Toilette, mit einem jungen Chinesen sich unterhaltend, der augenscheinlich von ihr entzückt schien. Sie ist selber Mestize, halb Chinesin, halb Spanierin. Da sie wieder so grell zu lachen begann und wir etwas ermüdet waren, gingen wir hinauf in Feliças Schlafzimmer, das für uns eben von der Frau mit der Zigarre für die Nacht hergerichtet wurde, indem sie ein zweites Lager auf dem Boden aufschlug. Währenddessen schauten wir rauchend zum großen Fenster hinunter und sahen, wie Feliça geschäftig bald hierhin bald dorthin lief, immer dazwischen heraufguckend und laut lachend, was sich zu einem wahren Geschrei steigerte, wenn wir etwas Spanisches oder Italienisches hinunterriefen, so daß aus allen Läden die Chinesen herguckten, Bemerkungen machten und auch lachten. Solch ein Gelächter wie in Pagsanyan hab' ich noch nie erlebt! Allmählich ermattete es, und wir wollten uns niederlegen; ich nahm zuerst Platz am Boden, worauf Clement schwur, er würde dann auf einem Stuhl schlafen; hartnäckig blieb jeder bei seinem Vorsatz, bis ich nachgab und mich ins Bett legte; wir waren wie Orest und Pylades im dritten Akt von Glucks Iphigenie. Da – auf einmal – erklang im Nebenzimmer die Harfe! Es war Feliça; dies war ihre letzte Kunst, uns zu bezaubern; erst stimmte sie, dann legte sie los, mit großem Geschick, einen Walzer,[130] Polka und Marsch nach dem andern. Wir applaudierten von unsern Betten aus! Doch schien sie enttäuscht darüber. Sie hatte versungen, vertan; wir zwei waren unbeweglich als echte »standhafte Prinzen«. Die Harfe ward still – Feliça verschwand; wir schliefen ein!

Donnerstag, 12. Mai.


Um sechs Uhr wurden wir von Antonio aufgeweckt; wir machten uns fertig und warteten im Salon auf Feliça, um die Rechnung zu zahlen. Sie erschien, aber vollständig verändert; ihr Mund war geschlossen, kein Lachen drang mehr daraus: der furchtbare Ernst des Geldzahlens war gekommen. Da sie zuerst keinen bestimmten Preis nannte, gaben wir ihr nach der Sitte der Hotels zusammen vier Dollar. – Sie saß auf einem der Stühle und begann nun mit kalter Miene zu wafen, woraus wir nur entnehmen konnten, daß sie dies nicht nehme; sie wolle zehn Dollar, eigentlich, fügte sie hinzu, zwölf. Die Frechheit war so groß, daß wir ihr ins Gesicht lachen mußten. Um jedoch längeren Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, boten wir ihr sechs. Doch auch dies wollte sie nicht annehmen; da erklärten wir, wir würden Don Carlos die Sache vorlegen, eher keinen Pfennig zahlen; sie erklärte sich damit einverstanden, setzte sich ans Fenster ihres Schlafzimmers und schrieb einen Brief an den Kommandanten, den sie Antonio mitgab. Ohne daß sie uns adieu sagte, gingen wir zwei die Bambusleiter hinunter und stiegen in die bereitstehende[131] Caramata. – So hatten das Gelächter, das Harfenspiel, die aufgelösten Haare, die koketten Blicke sich alle in gemeinste Geldgier verwandelt! Na, wir ahnten es ja voraus! und Don Carlos hatte uns überdies gewarnt. Die Frau mit der Zigarre erschien gar nicht; überhaupt blieb das Haus ruhig; nur die stechenden Augen Feliças sprühten.


Nach meiner Heimkehr nach Bayreuth fand ich regste Tätigkeit auf dem Festspielhügel vor. Die Proben zum Tannhäuser waren im vollen Gang, und ich durfte zum erstenmal kleine Bühnendirigentendienste leisten. Der Entwicklung der Festspiele von dem Jahre ab, da meine Mutter die Leitung allein übernahm, möchte ich jetzt einige Worte widmen. Waren es doch die entscheidenden Jahre, in denen es um Sein oder Nichtsein des ganzen Festspielunternehmens ging. Beunruhigende Berichte über den Verlauf der Festspiele 1883, denen meine Mutter wegen der Trauer ferngeblieben war, ferner die dringenden Bitten aller Wahnfried nahestehenden Freunde, voran Adolfs v. Groß und unsres treuen Gralsritters Hans v. Wolzogen, hatten meine Mutter zu dem Entschluß gebracht, sich der »führerlosen Schar« anzunehmen. Mit weiser Zurückhaltung beginnend, wußte sie bald alle Künstler zu gewinnen. Den neu hinzukommenden Sängern studierte sie selbst die Rollen ein. Sogar die Widerhaarigsten und die auf ihre Leistungen[132] Stolzesten konnten sich des Eindruckes nicht erwehren, daß sie hier eine Darstellerin vor sich hatten, von deren Können niemand vorher eine Ahnung besaß, und von der sie vieles lernen konnten. Manche unsrer berühmt gewordenen Sänger und Sängerinnen, wie zum Beispiel van Dyck, Mildenburg, Nordica, Fritz Friedrichs, Alfred v. Bary, Soomer, Frau Reuß und andere, haben dies öffentlich laut verkündet. Rosa Sucher sagte: »Die Meisterin hat den Dämon in mir geweckt«, und Mottl schrieb: »Frau Wagner hat mich vom Musiker zum Künstler erhoben.« Andre wiederum hatten es lieber, wenn das Publikum glaubte, es sei alles ihre eigene Inspiration. Schön und erhebend war es jedenfalls für meine Mutter, zu erleben, daß die Künstler alle von Jahr zu Jahr mit innigerem Vertrauen zu ihr als der berufenen Frau, das künstlerische Erbe des Bayreuther Meisters zu übernehmen, emporblickten. Dieses Vertrauen und die wirklich aufrichtige Verehrung waren für sie ein reicher Ersatz für all das Gemeine und Gehässige, das ihr von andrer Seite entgegengebracht wurde.

Leider waren es nicht nur die eingeschworenen Feinde, die ihr Stein um Stein auf den schweren Weg warfen, nein, es waren auch sogenannte Freunde. Es machte sich damals ein gewisser Typ von Hyperwagnerianern breit, der fast unangenehmer war als die Feinde: Leute, die von Morgen bis Abend Zitate aus den Werken meines Vaters anführten. So kannten wir eine Dame,[133] die beim Naseputzen ihres Mannes ausrief: »War das sein Horn?« Diesen Anhängern galt meine Mutter als nicht genügend echt teutonisch. Sie wußten, daß sie mütterlicherseits französisches Blut in sich hatte und in Paris erzogen worden war! Alles recht verdächtige Momente, um an ihrer deutschen Gesinnung zu zweifeln – – –!!!! Als meine Mutter bei einer recht unliebsamen Auseinandersetzung mit jener eben erwähnten Dame bei dem Ertönen eines Donnerschlages scherzend ausrief: »Sehen Sie, Zeus grollt,« erwiderte jene, vorwurfsvoll korrigierend: »Sie halten es mit Zeus, ich – ich halte es mit Wotan.« Wie echt war jene, und wie unecht meine arme Mutter! Das Mißtrauen nahm solchen Umfang an, daß in diesen Kreisen sogar laut der Verdacht ausgesprochen wurde, der Festspielfonds würde in Wahnfried mit Champagner verschleudert, und von Adolf Groß behaupteten sie, er beabsichtige, aus dem Festspielhaus eine Spinnerei zu machen. Am tollsten setzten von allen Seiten die Hetzereien ein, als meine Mutter die Aufführung des Tannhäuser ankündigte. Wußte sie doch, daß meinem Vater dies Werk besonders ans Herz gewachsen war, eine Vorliebe, die meine Mutter und ich ebenfalls hegten. Der glänzende Erfolg des Tristan 1886 unter Mottl und der Meistersinger 1888 unter Richters Leitung hatte vorübergehend einen Stillstand der Feindseligkeiten bewirkt. Tannhäuser 1891 entfesselte sie von neuem. Zuerst entrüstete man sich darüber, daß man überhaupt in Bayreuth an eine Aufnahme[134] dieses Werkes denke; es sei ein Jugendwerk, noch halb alte Oper, und – horribile dictu – eine für Paris – dieses Wort macht schon erschauern – erweiterte Szene darin! Wie haben sich da Feinde und Scheinfreunde die Hände gereicht, um meine Mutter ja recht beim Publikum zu diskreditieren. Und als die Aufführung zustande kam, da ging erst der Hexensabbat los! Aber, wie es so oft geht: wenn die Bosheit zu sehr triumphiert, dann bewirkt sie das Gegenteil von dem Bezweckten. Das Tannhäuserjahr war der Entscheidungskampf. Meine Mutter siegte. Die Schar der wirklich zu Bayreuth Gehörenden, die von Jahr zu Jahr zugenommen hatte, hielt fest und treu zu ihr, und als sie im Jahr 1894 Lohengrin unsrer Bayreuther Gemeinde vorführte, da verstummte die Opposition. Die vollendet schöne Aufführung ließ das Werk in einer so ungeahnt neuen Art erstehen, daß das Publikum einmütig erklärte, das Werk überhaupt nicht wiederzuerkennen.

Genörgelt wurde allerdings auch damals noch weiter, besonders wurde das Heranziehen ausländischer Künstler (van Dyck, Lillian Nordica, Blauwaert, Mad. Grandjean und so weiter) getadelt, wie man sich überhaupt darüber aufhielt, daß die Fremden sich im Publikum so breit machten und in Wahnfried gefeiert würden. Nun – ich möchte, da ich das eben erwähne, gern den ausländischen Freunden hier meinen Dank aussprechen, daß sie zu einer Zeit, wo das deutsche Publikum noch mehr durch Abwesenheit als durch Anwesenheit glänzte, nach[135] Bayreuth pilgerten. Das waren und sind keine Kunstsnobs, denn Bayreuth war damals nicht »Mode«; das waren Menschen, die aus tiefster Überzeugung von der Kulturbedeutung der Bayreuther Sache und aus Begeisterung für die Werke meines Vaters die wahrlich nicht bequeme Reise in unser entlegenes kleines Frankenstädtchen machten. Menschen, die ihre Eindrücke in enthusiastischen Berichten verkündeten und so zur Teilnahme an den Festspielen aufmunterten. In Paris entstand die Revue Wagnerienne, von Dujardin herausgegeben, für die Chamberlain seine berühmt gewordenen Aufsätze verfaßte, der Londoner Wagnerverein sorgte eifrig für die Verbreitung der Gesammelten Schriften meines Vaters, dasselbe geschah in Bologna, Barcelona, New York. Es kam der siegreiche Einzug des Lohengrin in Paris, das Verdienst des treuen Lamoureux; später folgten die andern Werke nach. Die flammende Begeisterung der Seinestadt übte dann auch ihre Wirkung auf Deutschland, das sich nun endlich besann. In den letzten Jahren vor dem Kriege waren neunzig Prozent der Festspielbesucher Deutsche. Für Deutschland eine erfreuliche Tatsache, es hätte aber zwanzig Jahre früher schon so sein sollen! Aber nicht nur im Auslande, auch in den Reihen der deutschen Anhänger erhoben geistig hochstehende Kämpen ihre Stimme für meine Mutter: Außer Wolzogen und Glasenapp waren es Thode, Doktor Fiedler, Max Koch, Wolfgang Golther, Sternfeld, George Davidsohn und andere, die gegen die[136] wüste Hetze auftraten. Es soll des öfteren nach den Aufführungen in den Wirtshäusern zu recht handgreiflichen Auseinandersetzungen gekommen sein, besonders mit einem jetzt verstorbenen Berliner Kritiker, von dem Hans v. Bülow einmal sagte: »Herr X ist schon am Rande der Unbestechlichkeit angelangt: man kann ihn für fünf Mark haben.«

Im selben Lohengrinjahre gründete meine Mutter die Stilbildungsschule in Bayreuth. Unser rastloser, arbeitsfreudiger Julius Kniese, bei dem ich meine Studien fortgesetzt hatte, übernahm die musikalische Leitung. Die Darstellung leitete sie selbst. Am Ende des ersten Schuljahres wurde mit den Schülern eine teilweise Aufführung des Freischütz im alten markgräflichen Opernhause unternommen. Diese war auch zugleich mein Dirigentendebut. Eines erheiternden Momentes aus jenen Tagen mußten wir später noch oft gedenken, nämlich einer nichtgehaltenen Rede. Bei einem Abendessen nach der Aufführung bat meine Mutter Humperdinck, einige Worte zu sprechen. Sofort stand er auf, blickte freundlich lächelnd um sich, rieb sich die Hände, räusperte sich und setzte sich wieder hin, ohne ein Wort gesagt zu haben. Reinhard Kékulé, der bekannte Archäologe, rief aus: »Das ist die beste Rede, die ich je gehört habe.«

Als im Jahre 1896 der Ring des Nibelungen zum erstenmal seit zwanzig Jahren wieder aufgeführt wurde, konnten zwei junge Schüler aus der Bayreuther Schule mitwirken: Burgstaller und Breuer als Siegfried und[137] Mime. Bei den vorbereitenden Studien wurde das Augenmerk in erster Linie auf sinngemäße Darstellung und deutliche Aussprache gelenkt. Über letztere wurde viel gespottet; die Bayreuther »Konsonantenspuckerei« wurde ein beliebtes Hohnwort. Auch dieser Tadel vermochte meine Mutter nicht von ihrer Überzeugung abzubringen, daß bei dramatischen Szenen die Deutlichkeit das wichtigste sei. Bei rein lyrischen Stellen dagegen ließ sie stets die Konsonanten weich nehmen und hinter den Vokalen zurücktreten. Bei dem Darstellungsunterricht war für die jungen Künstler, aber auch für diejenigen, die sich schon an das Gegenteil gewöhnt hatten, das schwierigste, die Gebärde vor dem Worte zu machen. Diese ist das Spontane, der unmittelbare Ausdruck des Willens, das Wort muß erst den Weg des Verstandes gehen. Nur der unartikulierte Laut ist spontan wie die Gebärde. Gewöhnlich erlebt man es, daß diese von meinem Vater deutlich in der den Worten vorangehenden Orchesterbegleitung gegebenen Anweisungen (je nach dem Auszudrückenden ein scharfer Akzent oder eine zarte Äußerung) von den Sängern unbeachtet gelassen werden und daß sie die Gebärde erst nach dem Worte bringen. Oft sieht man während dieser Vorspiele einen sehnsüchtigen Blick herab zum Dirigenten, ob der auch wirklich den Einsatz deutlich hinaufgeben werde. Daß mein Vater aber die Gebärde vorher haben wollte, kann ich an hundert Stellen nachweisen; besonders scharf ist diese Absicht in der Klingsorszene kundgegeben.[138]

Den Darstellungsproben wohnte ich stets bei und mimte alles mit, was gerade als Partner nötig war; so hatte ich die beste Gelegenheit, meine Regiestudien zu machen. Im selben Jahre 1896 dirigierte ich auch zum erstenmal im Festspielhaus, und zwar neben Richter und Mottl einen Zyklus des Ringes. Wohl keine geringe Aufgabe! Als ich da in den mystischen Abgrund an das Pult trat, unter mir das Riesenorchester, vor mir das Dunkel der Rheingoldtiefe, da wurde mir schon etwas schwindelig zumute. Gottlob kannte ich die Partitur so gut wie auswendig, so daß mein momentan getrübtes Auge nicht von den Noten abhängig war. Bald wich jede Erregung, ich fühlte etwas von einer segnenden Hand über mir, die mich in diesen entscheidenden Stunden beschützte.

Einen treuen Förderer fand ich an unserm Orchestermeister Hans Richter. Von frühester Jugend her als liebster Spielfreund uns bekannt, bewahrte er den Wahnfriedkindern bis zu seinem Ende eine nie getrübte, traute Freundschaft. Wenn es hieß: Richter kommt, strahlten zehn Augen vor Freude. In der Dirigententechnik verdanke ich ihm viele gute Ratschläge. Als er mich zum erstenmal in London dirigieren sah, sagte er: »Das freut mich, daß du die Partitur im Kopf hast und nicht den Kopf in der Partitur.« Einige ihn charakterisierende Aussprüche lasse ich gern hier folgen. Als er einmal eine hypermoderne Komposition probierte, sagte er: »Jetzt müssen wir aufpassen, daß wir die richtigen[139] falschen Noten spielen.« Das Orchester ging ihm über alles, Sänger mochte er nur leiden, wenn sie musikalisch waren. Als einer der Unmusikalischsten auf der Bühne patzte, sagte er an seinem Pult: »Wann der Vorhang aufgeht, ist meine Freude vorbei.« seine Konzerttätigkeit in London lag ihm mehr am Herzen als das Operndirigieren in Wien. Um nun möglichst viel Urlaub nach England zu erlangen, übernahm er in Wien alles, was es zu dirigieren gab, damit sein Kollege Fuchs dann das gleiche tue. Da kam es natürlich vor, daß er Opern dirigierte, die er so gut wie gar nicht kannte. In einer Traviataaufführung kam es einmal zu einem großen Chorschmiß (dieses ist der übliche Theaterausdruck für solche Katastrophen). Der Intendant ging wütend auf Richter zu: »Aber Herr Kapellmeister, so was darf doch nicht in der Hofoper passieren.« – Richter antwortete mit Seelenruhe: »Hab' ich's nicht immer gesagt, daß der Chor gestrichen werden muß!« Den Cellisten pflegte er beim Beginn des Tristan zuzurufen: »Meine Herren, vergessen Sie, daß Sie verheiratet sind!« In Bayreuth ärgerte er sich einmal sehr über eine unmusikalische Sängerin. Als ich ihm zu ihrer Entschuldigung sagte, sie sei doch eine famose Darstellerin, erwiderte er: »Ach was, ich pfeif' auf die Darstellung!« Über meine Bärenhäuterpartitur äußerte er: »Weißt du, wenn ich eine neue Partitur ansehe, guck' ich zuerst nach der Fagottstimme. Wenn die immer mit dem Cello zusammengeht, dann ist's schon nichts. – Deine ist gut.« Die Brahmssche Instrumentation[140] war ihm unerträglich: »Bei ihm scheint aber auch nie die Sonne.« Meine Mutter forderte ihn wiederholt auf, den Parsifal zu dirigieren; er biß aber nicht an, sondern erwiderte: »Zwei Dinge hebe ich mir bis zum Schluß auf: Die Nationalgalerie in London und den Parsifal.« Über die theoretischen Schriften meines Vaters sagte er: »Das ist ja großartig, was dadrinnen steht, aber eine Partitur mehr wäre mir lieber!« Von allen Werken meines Vaters waren ihm die Meistersinger am meisten ans Herz gewachsen, und darum dirigierte er diese am liebsten. Das ist wohl begreiflich, denn er war dazu wie prädestiniert. In Geldangelegenheiten war er von einer rührenden Bescheiden heit und Vornehmheit. Nicht um die Welt hätte er sich je die Aufenthaltskosten in Bayreuth ersetzen lassen. »Das wäre noch schöner,« rief er aus, »dem Meister verdanke ich alles, und dafür soll ich mich bezahlen lassen.« Als er sich durch seine Tätigkeit in England so viel verdient hatte, daß er sich und seine Familie ernähren konnte (von seinem kläglichen Wiener Gehalt hätte er das nicht vermocht), zog er sich nach Bayreuth zurück, um hier, abhold allem Äußerlichen, sein Leben zu beenden. Eine letzte große Freude strahlte über sein Gesicht, als er kurz vor seinem Tode erfuhr, daß in Bälde das Erscheinen eines Enkelkindes des Meisters zu erwarten sei. Die Geburt meines ältesten Sohnes Wieland-Gottfried hat er leider nicht mehr erlebt. Mit Hans Richter ist ein Typus von deutschen Musikern geschwunden, der fast erloschen[141] sein scheint: der aus dem Orchester heraus entstandene Orchestermeister. Er war kein Dirigent in der Art Bülows. Er blieb immer Musiker. Prachtvoll war seine wuchtige, plastische Art zu dirigieren; dazu die leuchtenden blauen Augen und der goldblonde Vollbart, der ihm so gut stand.

Nun möchte ich in Kürze noch von den folgenden Festspieljahren berichten. Das Jahr 1897 brachte wieder den Ring dazu Parsifal, 1899 dazu nach längerer Pause wieder die Meistersinger. 1901 und 1902 konnte man sich kühn an das Jugendwerk, den Fliegenden Holländer, wagen, und zwar in einer Form, in der das Werk noch nie gebracht worden war: ohne Unterbrechung. Die Absicht meines Vaters, es so aufführen zu lassen, gibt sich deutlich kund in den Abschlüssen und Einleitungen der drei Akte. Wegen der technischen Schwierigkeit gab er es aber selbst auf; die Bühnenmittel waren zur Zeit der Komposition des Werkes so bescheiden, daß er auf Erfüllung seines Gedankens verzichten zu müssen glaubte. Jetzt murrte niemand mehr, wie früher beim Tannhäuser. Meine Mutter vertraute mir immer mehr an. Warf ich mich 1896 hauptsächlich auf die Beleuchtungs- und Dekorationsproben, so konnte ich von 1901 ab zeigen, ob ich Talent zur Regieführung hatte. 1904 überließ sie mir ganz die szenische Ausgestaltung des Tannhäuser. Sie selbst arbeitete hauptsächlich mit den Solisten. Die Überanstrengung, die sie sich häufig zumutete, dazu viele seelische Erregungen brachten nach[142] ihrer letzten wundervollen Tristanaufführung im Jahre 1906 einen schweren Zusammenbruch ihrer Gesundheit. Auf Geheiß ihrer Ärzte Ernst Schweninger, des berühmten Bismarckpflegers, und unsres altbewährten Heinrich Landgraf, die, wenn auch stark entgegengesetzten Richtungen angehörend, doch verständnisvoll zusammenhalfen, um die Patientin uns möglichst lang zu erhalten, entsagte sie aller Tätigkeit auf dem Festspielhügel. Vertrauensvoll legte diese unvergleichlich große Frau ihr Amt in meine Hände. Auch in diesem Augenblicke, wie damals am Dirigentenpult im Festspielhause, fühlte ich deutlich das Wirken einer höheren Macht, und ich empfand, welch ein Segen des Himmels es ist, mit einer Bestimmung auf die Welt gekommen zu sein. »Siegfried« ward ich von meinen Eltern genannt. Nun, Ambosse habe ich nicht zerhauen, Drachen habe ich nicht getötet, Flammenmeere habe ich nicht durchschritten. Und trotzdem hoffe ich, nicht ganz unwürdig dieses Namens zu sein, denn das Fürchten ist wenigstens nicht mein Fall.

So machte ich mich unverzagt und frohgemut an meine Aufgabe. Den meisten Künstlern war ich ja kein Fremder mehr. Mit besonderen Dankesgefühlen gedenke ich derer, die im Jahre 1908, als ich außer Parsifal, dem Ring noch Lohengrin brachte, mir mit herzlichem Vertrauen entgegenkamen, nicht nur der Dirigenten und Solisten, sondern auch des Orchesters, unsres Chores und des technischen Personals. Unser Bayreuther[143] Stammpublikum zeigte auch deutlich, daß es mit dem Entschluß meiner Mutter, mich als Nachfolger einzusetzen, einverstanden war. Wohl fehlte sehr allen Getreuen der Anblick ihrer hohen Gestalt, wie sie in der Pause mit ihren Freunden heiter plauderte, für jeden ein gütiges, herzliches Wort findend. Ihr Gesundheitszustand ließ aber keine Erregungen mehr zu. So entsagte sie lieber ganz der Tätigkeit, als daß sie nur als Zuhörende sich beteiligt hätte. Dazu war sie ein zu aktives Naturell. Unwillkürlich wäre sie doch wieder eingesprungen; dann hätte sie den Schmerz durchmachen müssen, daß der Körper es nicht mehr zugelassen hätte. Nie hat sie etwas halb getan! Es gab nur ein Entweder-Oder.

Im Jahre 1909 wurden die Festspiele mit den gleichen Werken wiederholt. 1911 und 1912 brachten wir statt Lohengrin die Meistersinger – Hans Richters letztes Wirken! 1914 wurde außer Ring und Parsifal der Holländer wieder aufgenommen. Ein jähes Ende bereitete der ausbrechende Weltkrieg. Von den zwanzig geplanten Aufführungen konnten mit Mühe acht stattfinden. Schon während der Ringvorstellungen drangen beunruhigende Gerüchte bis zu dem Festspielhügel, wo man es sonst, wie auf der Insel der Seligen, vermied, von Politik zu sprechen. Nach der Siegfriedvorstellung reisten alle ungarischen Gäste ab, bald folgten die österreichischen. Die Reihen im Zuschauerraume begannen sich zu lichten, oder man sah an Stelle der Auswärtigen Bayreuther[144] Einwohner sitzen, bei denen jene logiert hatten. Noch immer nicht an den Krieg glaubend, versuchten wir weiterzuspielen, bis wirklich die Kriegserklärung das Ende brachte. Der Abschied von allen Freunden war tiefergreifend. Das war 1914, und jetzt schreiben wir 1922, und noch immer nicht konnte das Festspielhaus seine Pforten wieder öffnen. Eifrige Freunde bemühen sich, Mittel zur Verfügung zu stellen, damit wir, wie es unser fester Entschluß ist, 1924 wieder spielen können. Dann soll der Gral wieder leuchten! Sein Segen wird unserm armen Vaterlande wohltun. Viele treue Freunde unsrer Sache werden wir auf dem Festspielhügel nicht wiedersehen, liebe Gesichter, ohne die man sich die Festspiele nicht denken kann: Graf und Gräfin Wolkenstein, Glasenapp, Hans Richter, Klindworth, Mottl, Mrs. Schirmer, die Gattin des amerikanischen Verlegers, Mary Balling, Cheramy, Lascaux, Dowdeswell, Höfler, Marie Groß, Küchler, Kékulé, Humperdinck, Mathilde v. Wolzogen und viele andre, die der Tod uns entrissen hat. Doch leben gottlob noch viele von der alten »Garde«, wie sie sich selber bezeichnen, und neue werden hinzukommen. Daß die Physiognomie des Bayreuther Publikums sich nicht verändere, soll unsre besondere Sorge sein. Drum müssen wir durch Spenden edler Kunstgönner so gestellt sein, daß wir nicht zu Eintrittspreisen gezwungen werden, die jene gebildeten Elemente fernhalten würden.

Welchem Besucher wäre nicht die ganz besondere Eigenart unsres Publikums aufgefallen? Eine schönere[145] Aufhebung aller Standesunterschiede kann man sich nicht vorstellen, wie sie sich hier unter dem Banne des Herz und Geist beglückenden Genius vollzog. Die Fürstlichkeiten, die fast jedes Jahr treuanhänglich herkamen, fühlten sich froh, der lästigen, einengenden Etikette frei, Menschen sein zu können, die zu Menschen sprechen durften. Die Elite des Adels aller Länder (am stattlichsten war Ungarn vertreten) fand sich ein. Von der Wissenschaft waren in erster Linie Mediziner stark vertreten, wie ich überhaupt bei all meinen Reisen als ausübender Künstler die Erfahrung gemacht habe, daß es fast immer die Ärzte waren, die am meisten das Bedürfnis nach künstlerischer Erhebung zeigten, besonders nach Musik. Es gibt wohl keinen unsrer berühmten Ärzte, der nicht in Bayreuth gewesen wäre. Dieser Drang zur Musik ist eine Naturnotwendigkeit. In keinem Beruf hat der Mann täglich so Schweres, Trauriges, Abstoßendes zu sehen, wie in dem ärztlichen. Leiden und immer wieder Leiden. Müßte die Psyche eines solchen Mannes nicht ganz in Pessimismus untergehen, wenn sie nicht Gegenmittel fände; dieses ist die befreiendste aller Künste: die Musik! In ähnlicher, wenn auch nicht in so starker Weise ist dieses Bedürfnis bei den Juristen entwickelt, die in unmittelbare Berührung mit den bösen menschlichen Instinkten kommen; auch sie suchen in der Kunst eine Befreiung von den anwidernden Eindrücken, die ihr Beruf ihnen zuführt. So dürfen wir ihrer viele als treue Bayreuther begrüßen! Bei den früheren Festspielen waren[146] Universitätsprofessoren noch weiße Raben. Einer von diesen wog allerdings zehn auf: der einzige der Berliner Universität, der die Größe meines Vaters erkannt hatte und alljährlich mit den Seinen nach Bayreuth pilgerte, war Helmholtz.1 Großindustrie, Kaufmannschaft, Künstler aller Arten gesellten sich zu den Genannten. Daß unbemittelte Würdige freien Zutritt und freie Reise erhalten, dafür sorgt die früher von Friedrich v. Schoen mit so hingebendem Eifer verwaltete Stipendienstiftung. Dasselbe ideale Ziel verfolgt der Richard Wagner-Verband deutscher Frauen; mit der diesem Geschlechte eigenen Energie und Rastlosigkeit sind hier schöne Resultate erzielt worden. Die Richard Wagner-Vereine, deren Haupttätigkeit früher der Verbreitung der Gesammelten Schriften meines Vaters galt, haben sich jetzt auch mehr und mehr denselben Bestrebungen zugewendet, wie der Frauenverband sie verfolgt. So dürfen wir, trotz der sehr erschwerten Verhältnisse, hoffen, daß in Zukunft auch die Unbemittelten zu ihrem Rechte kommen. Zu diesem Zwecke habe ich in den letzten Jahren vor dem Kriege die Generalproben offen gehalten.

Der knappe Rahmen dieser Erinnerungen gestattet es mir leider nicht, aller um unsre Sache verdienten Männer und Frauen zu gedenken. Einen hochherzigen Gönner möchte ich aber nicht unerwähnt lassen: den Zaren Ferdinand[147] von Bulgarien. Auch während des Kriegs und nachher hat er keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um uns und der Stadt Bayreuth seine Sympathie zu bekunden. Sogar die Konzertunternehmungen der hiesigen »Gesellschaft der Musikfreunde« unter Leitung Kapellmeister Kittels unterstützt er durch Spenden und beehrt er mit seinem Besuche. Eine Aufführung meiner »Sonnenflammen« in Koburg ermöglichte er durch reiche Zuwendung von Geldmitteln für eine schöne Inszenierung. In Bayreuth ist er eine populäre Gestalt, und trotz Republikanismus jubelt ihm das Volk bei seiner Ankunft und Abfahrt genau so zu wie früher. Wie er hier und in Koburg die Kunst nach wie vor unterstützt, so tun es viele unsrer Fürsten, unbekümmert darum, daß man sie beseitigt hat. Sicherlich wären die meisten der kleineren Hoftheater zugrunde gegangen, hätten sie sich nicht der finanziellen Hilfe ihrer Begründer zu erfreuen. Wie stolz waren nicht all die kleinen Residenzen auf ihr Hoftheater! Und das mit Recht, denn hier konnte ruhig, ohne Gedanken an finanzielle Resultate, daher ohne Hetze und ungenügende Vorbereitung, ohne die Künstler zu überanstrengen, gearbeitet werden. Welche hohe Bedeutung für die deutsche Kultur haben solche Stätten! Wer gedenkt nicht dankbaren Herzens der Eindrücke, die er durch die Wirksamkeit des Herzogs Georg von Meiningen empfangen hat! Der Name Karlsruhe war in der ganzen Welt bekannt. Ebenso Schwerin, Dessau, Weimar, Gera, Darmstadt.[148]

Den Fürsten, die so uneigennützig für die deutsche Kunst gewirkt haben, sei hier ein besonderer Dank ausgesprochen. – Auch alle bedeutenden Leistungen unsrer Künstler hier zu besprechen, wäre sehr verlockend, aber das würde zu weit führen, denn alle könnte ich doch nicht nennen, und ich würde dadurch bei Unerwähnten zu Kränkungen Anlaß geben. Wer sie nicht gehört hat, kann sich ja sowieso aus einer Schilderung kein Bild machen, und wer sie gehört, bedarf deren nicht.

Die Kriegszeit, die meinem Lande nur Unglück brachte, führte mein Leben zu einer entscheidenden Wendung: ich fand das längst ersehnte Glück, eine Gattin und durch sie vier liebe heitere Kinder, zwei Knaben und zwei Mädchen. Winifred Williams, eine Engländerin, früh schon Waise, wurde von Karl Klindworth, dessen Frau mit ihr verwandt war, adoptiert und ganz deutsch und im Bayreuther Geist von diesem edlen großen Künstler erzogen. 1914 kam sie zu den Festspielen. Scherzend nannte ich mich einen Kriegsgewinnler, denn der Krieg hatte mir einen Gewinn gebracht, tausendmal mehr wert als alle Schätze, die viele andre sich in dieser Zeit errafften: ein liebendes Herz.

Mit einem Bericht über mein eigenes Schaffen möchte ich den Leser nicht langweilen. Wer sich dafür interessieren sollte, den verweise ich auf die Schriften von Paul Pretzsch, Glasenapp und Karpath. Die Motive meiner Dichtungen entnahm ich meistens der deutschen Volkssage; es liegen da noch viele ungehobene Schätze.[149] Das Suchen, Sichten und Verknüpfen ist nicht so leicht. Unsre außerordentlichen Forscher, allen voran Jakob Grimm, haben sich ein hohes Verdienst um das Deutschtum errungen, indem sie all diese zersplitterten, zerstreuten, oft bis zur Unkenntlichkeit umgewandelten, ursprünglich der Götter- und Heldensage entnommenen Motive sammelten. Es ist ein erfreulicher Zug unsrer Zeit, daß immer mehr das Bedürfnis erwacht, der Volksseele sich zu nähern, das einzig wahre Mittel gegen die Großstadtverseuchung, die selbst schon unsre Landbevölkerung anzustecken droht. Daß ich nicht faul bin, kann aus der Tatsache ersehen werden, daß ich jetzt bei der Vollendung meiner dreizehnten Oper bin und daß ich noch mehrere dichterische Entwürfe skizziert habe. Sollte ich dereinst wegen irgendeiner Sünde in die Hölle kommen, so möchte ich mir wenigstens vom Teufel die Gunst erbitten, daß ich nicht in die Abteilung der Faulpelze, auch nicht in die der Lügner komme.

Es gibt Menschen, die gern aus mir eine tragische Figur machen möchten. Mit mitleidigem Lächeln sehen sie mich an, und was sie denken, dürfte vielleicht folgendermaßen lauten: »Du armer Mensch, wie muß dich die Last des Ruhmes deines gewaltigen Vaters niederdrücken! Wie bemitleiden wir dich. Und daß du die Verwegenheit besitzest, selbst noch als Opernkomponist aufzutreten, und so naiv bist, zu glauben, daß du damit durchdringst! Armer, mitleiderregender Mensch!« Ich antworte darauf: »Sehe ich wirklich so niedergedrückt[150] und zerquetscht aus, lieber Leser? Es täte mir sehr leid, wenn ich solchen Eindruck erweckte, denn ich fühle mich sehr wohl und gesund. Allerdings gebe ich gern zu, daß es mir nicht gerade leicht gemacht wird.«

Es bedarf schon der Geduld, bis man wenigstens eine kleine Anzahl der Vorurteile beseitigt hat, die gegen den Sohn eines großen Mannes feststehen. Ich weiß nicht, wie sich das in andern Ländern verhält; in Deutschland besteht jedenfalls ein Dogma, daß solch ein Sohn mindestens ein halber Esel, wenn nicht gar ein kompletter Idiot sein muß. Kommt nun einer, auf den dieses Dogma nicht ganz paßt, entsteht Verwirrung. Gottlob habe ich mir im Laufe der Jahre die Anerkennung und das Vertrauen aller derer erworben, auf die es einem ernsten Künstler ankommt, der nicht der Mode des Tages huldigt, sondern treu einer inneren Stimme folgt. Sich treu bleiben: darauf kommt es an, und das war mein Bestreben, es Männern wie Hans v. Wolzogen gleich zu machen, die lieber leiden und sich verhöhnen lassen, als daß sie ihre Überzeugung aufgeben.

So rufe ich denn jenen mitleidig Lächelnden beruhigend zu: »Ich fühle mich durchaus nicht als tragische Gestalt, ich freue mich täglich, daß ich das Glück habe, einen solchen Vater zu haben, ich freue mich, eine solche Mutter, einen solchen Großvater mein nennen zu dürfen. Ich freue mich meiner Schwestern, die ihrem Bruder nur Liebe und Güte entgegenbringen; ich freue mich meiner schönen, heiteren, klugen Gattin, ich freue mich über die[151] vier Kinderchen, ich freue mich, daß ich zur Heimat ein solche hübsche, gemütliche Stadt wie Bayreuth habe, deren Bürgerschaft bei allen Gelegenheiten mir Zeichen ihrer ehrlichen Sympathie gibt, ich bin stolz auf das Vertrauen, das mir das Festspielpublikum und unsre Künstler entgegenbringen – und ich freue mich – last not least – daß ich nicht ganz talentlos bin und von meinen Eltern ein reichliches Quantum Humor mitbekommen habe. Lieber Leser, findest du, daß jemand, der sich über so vieles zu freuen hat, eine bemitleidenswerte, tragische Gestalt ist? – ich finde es nicht!«

Fußnoten

1 Der einzige, der in den achtziger Jahren an den Universitäten über meinen Vater Vorträge zu halten den Mut hatte, war meines Wissens Herny Thode


Quelle:
Wagner, Siegfried: Erinnerungen. Stuttgart 1923.
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