Ich falle unter die Mädchen

[37] Geschlagen ward ich nur für gröbliche Widersetzlichkeiten. Doch mochte dies einmal, wenn wirklich die Sache so zusammenhing, wie ich mich ihrer erinnere, ziemlich unzweckmäßig geschehen sein, denn gerade mittels dieser Strafe setzte ich meinen Willen durch.

Aus mir gänzlich unbekannten Gründen hielt es meine Mutter für geraten, mich etwa in meinem fünften Jahre eine öffentliche Schule besuchen zu lassen, und sonderbarerweise zwar eine Mädchenschule. Möglich, daß die genaue Kenntnis von den Lastern kleiner Knaben, die sie aus ihrer Erziehungslektüre schöpfte, diesen sonst so unerklärlichen Gedanken erzeugt hatte; kurz, die Sache war fest beschlossen. Ich wurde weiter nicht befragt und wußte überhaupt nicht recht, was bevorstand, als meine Mutter mir eines schönen Morgens ein wohleingewickeltes Butterbrot mit Gewalt in die zu enge Hosentasche bohrte, mich bei der Hand nahm und mit mir abzog. Sie konnte sich ja auf mich verlassen, da ich wahrscheinlich der gehorsamste Knabe war, der damals in Dresden existierte.

Jene Schule oder Privatanstalt befand sich auf der Seegasse in einem hohen, düsteren Hause und in den Händen einer gewissen Mamsell Claß, die, mit der Hofrätin Näcke sehr befreundet, von dieser als geeignete Persönlichkeit empfohlen war. Schon auf der Treppe, die nach Dresdner[37] Art stockdunkel und unsäglich stinkend war, wurde mir das Ding bedenklich, und ich schlug vergeblich vor, ob wir nicht lieber umkehren und in unser schönes helles Haus in der Vorstadt zurückgehen wollten. Als wir nun aber erst in die Zimmer traten und ich die vielen Mädchen sah, die gleich ihrer Lehrerin sämtlich Titusköpfe hatten und mich mit den Augen fast verschlangen, wurde es mir gelb und grün und jämmerlich ums Herz, und ich bat die Mutter flehentlich, mich wieder mitzunehmen. Mamsell Claß nahm mich indessen in die Arme, herzte mich, sprach mir auf sächsisch zu, und währenddessen war meine Mutter weg.

Worauf es nun bei dieser Sache eigentlich abgesehen war, kann ich nicht sagen, genug, die Lehrerin gab mir Spielsachen, und während ich an einem Seitentischchen, meine Tränen verschluckend, einen kleinen Meierhof aufbaute, setzte jene ihren Unterricht mit den Mädchen fort. So weit ging alles leidlich; ich nahm die Sachen, wie sie waren, schickte mich in die Zeit und wurde endlich so vertraut mit meiner Lage, daß ich sogar den Versuch machte, mein Butterbrot hervorzuziehen, was jedoch nicht gelang. In der Freiviertelstunde aber, als Mamsell Claß uns auf kurze Zeit verließ, drangen die kleinen Mädchen mit ihren Pudelköpfen lachend und kreischend auf mich ein, ja, sie fielen recht eigentlich über mich her wie Bacchantinnen über einen Orpheus, rissen sich um mich, und wer mich erwischen konnte, liebkoste mich und küßte mich. Ich spreizte meine Glieder wie ein Mistkäfer, den man in hohler Hand hält, hieb und stieß mit allen vieren um mich, bis die Lehrerin wieder eintrat und der Greuel sich legte.

Man mag hieraus ersehen, daß ich eben noch ein dummer Junge war, ein Idiot, ohne jede Würdigung der großen Güte, die man mir erzeigte, denn ohne Zweifel waren alle diese Mädchen von sehr mütterlichen Gefühlen gegen mich erfüllt. Vergessen habe ich sie freilich nicht; sie hinterließen mir einen so unauslöschlichen Eindruck, daß ich die Physiognomien von mehreren der kleinen Plagegeister noch heute im Gedächtnis habe.

Als mich nun meine Mutter am anderen Morgen wieder in diesen Türkenhimmel versetzen wollte, erklärte ich sehr entschieden, daß ich nicht wolle. Die Mutter redete mir freundlich und mit den überzeugendsten Gründen zu, dann auf sehr ernste Weise und befahl mir schließlich, ihr zu folgen: ich blieb bei meinem Satze. Endlich, bestürzt über so unerhörte Renitenz, führte sie ihre Kerntruppen ins Feuer und fragte mich, was ich lieber wolle, ein Produkt Ruten – wie sie sich ausdrückte – oder in die Schule gehen. Und damit hatte sie das Spiel verloren. Ein Blick im Geiste auf die vielen Mädchen und ihre Zärtlichkeiten ließ mich nicht schwanken – ich wählte das »Produkt«. Das mochte zwar gehörig »anziehen« – wie man in Dresden sagt – ja, ich erinnere mich, daß es sogar[38] über Erwarten anzog, doch aber konnte es im Vergleich zu jenem mir so überaus widerwärtigen Mädchenzwinger nicht in Betracht kommen. Ich war nun frei, und meine Mutter stellte mir nie wieder dergleichen Alternative.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 37-39.
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