Zuwachs

[41] Meine Kindheit fällt in eine der mörderischsten Geschichtsperioden. Während unsere kleine Familie auf der halben Gasse ein Friedensbild häuslichen Glücks darstellte, trank die weite Erde das Blut ihrer Kinder in Strömen, und entsetzliche Hekatomben wurden dem Ehrgeiz eines einzelnen hingeopfert, vor dessen Hauche alles Leben welkte wie das Gras vor dem Samum der Wüste. Das alte tausendjährige[41] Römische Reich war in Scherben zerfallen, Preußen mit den Mittelstaaten in den Staub getreten oder abhängig geworden, und nur Österreich fristete noch eine Art von kümmerlicher Selbständigkeit.

Meine Eltern litten schwer hierunter, allein wir Kinder empfanden es nicht. Wir saßen warm und wohlig im mütterlichen Nest, und ich erinnere mich, daß jener fürchterliche Krieg mir damals nur als Hindernis unserer Reise nach Rußland beklagenswert erschien. Für diese hatte jedoch der Tilsiter Friede endlich neue Aussicht eröffnet. Mein Vater mochte nicht länger Zeuge der Schmach des deutschen Landes bleiben: er nahm die alten Pläne wieder auf und wollte reisen, sobald es irgend tunlich.

Die Sache schien jetzt bitterer Ernst zu werden. Der Reisewagen ward von neuem nachgesehen und aufmerksam geprüft, mein Vater ließ seine Pistolen instand setzen, und ich putzte mit Kreide meine blecherne Trompete und den Messingknopf an meiner Peitsche, damit das alles späterhin keinen Aufenthalt verursache. Indessen blieb doch immer noch einiges zu bedenken. Die Arbeiten des Vaters, die erst vollendet sein wollten, zogen sich in die Länge; es wurde Winter, und endlich schien es nötig, vor allen Dingen noch ein Ereignis abzuwarten, das von größerer Wichtigkeit als jene Reise war und mir für meine Person eine Bekanntschaft verschaffen sollte, die gleich mit Bruderliebe anfing und als herzliche Freundschaft noch heutigentags besteht.

Ich spielte eines schönen Morgens oben bei Engelhards mit meinem Freunde Ludwig und war eben im Begriff, ein sehr wohlgeborenes Exemplar von Seifenblase zu vollenden, als mein Vater eintrat und mich abrief. Ich konnte mich aber nicht wohl entschließen, die köstliche, sich immer noch steigernde Farbenpracht eines Werkes zu zerstören, das an meinem Atem hing, und bat daher durch Nasentöne und Zeichen mit der linken Hand um Aufschub, bis ich erfuhr, es sei soeben ein Schwesterchen vom Himmel angekommen, was ich begrüßen solle.

Da ließ ich die Seifenblase platzen und ging an der Hand des Vaters hinab zur Mutter, deren Bette ich mich leise mit verhaltenem Atem nahte. Sie strich mir die Haare aus der Stirn und zeigte mir das Angesicht der Schwester, die ich mit Ehrfurcht betrachtete, weil sie so frisch aus Gottes Hand hervorgegangen. Die weiß gewiß noch, dachte ich, wie es im Himmel bei der seligen Maria aussieht.

Danach ward auch mein Bruder hergeführt, die Novität in Augenschein zu nehmen; und da es Nacht ward, stieg vielleicht ein seliger Geist vom Himmel nieder, um bei der Begrüßung der Geschwister nicht zurückzustehen. Oder wäre jene liebliche Erscheinung etwa nur von der phantastischen Natur des oberwähnten Kalbes gewesen?[42]

O nein! wir wollen die alte Geschichte von den Engeln, die bei der Wiege der Kinder sind, für keine Fabel halten. Zwar unser stumpfer und zerstreuter Blick vermag es in der Regel nicht, den Schleier zu durchbrechen, mit welchem die Beschränkung unserer Sinnlichkeit eine obere oder innere Natur verhüllt. Doch mag es immerhin Momente geben, wie deren auch die Heilige Schrift erwähnt, da sich das Dasein einer feineren jenseitigen Leibhaftigkeit dennoch offenbaren und auch an unserem groben Organ erscheinen kann wie ein Silberblick auf träger Schlacke.

Wem aber ausnahmsweise, wie meiner Mutter in jener Nacht, eine solche Wahrnehmung geworden, um dessen Seele ist gewiß ein heiliges Band geschlungen, welches gleich einem stetigen Verlangen das Herz nach der ewigen Heimat hinzieht. Hier wenigstens war dies der Fall, denn meine Mutter fragte fortan noch ernstlicher als vordem dem nach, was aller Menschen Seelen not tut, und fand vorerst durch Herder, auf dessen Schriften Schubert hingewiesen, einiges Verständnis für die unendliche Schönheit des geoffenbarten Gotteswortes. Die Schönheit aber lieben wir, und Liebe lernt leicht glauben. So dankten meine Mutter und durch sie wir alle dem teuren Herder großes Gut.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 41-43.
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