Die Töpfer

[75] Auch im Freien wurden wir zu zweckmäßigen Übungen angehalten. Unsere Spaziergänge mit Senff waren weglose Entdeckungsreisen durch die Wälder, welche den Ortssinn übten, wir badeten, kletterten, liefen Schlittschuh und Stelzen. Freilich geht es mit manchen dieser Dinge wie mit den Näckeschen Fischgerichten, ja wie mit allem in der Welt, das[75] schmackhaft gemacht werden soll, es muß aus eigenem Vermögen etwas Salz, d.h. etwas Täuschung, hinzugetan werden. So z.B. stelzten wir nicht schlechthin wie die Marschbauern, sondern unsere Stelzen waren Pferde und wurden als solche ordentlich abgewartet, in die Schwemme geritten, gestriegelt und geliebt. Daß dergleichen Pferde aus zwei unzusammenhängenden Hälften bestanden, störte nicht im geringsten. Wir selbst waren auch nichts weniger als Knaben, sondern große Herren und Ritter, die gegeneinander turnierten. Auf einzelner Stelze hüpfend, gebrauchten wir die andere als Lanze und suchten uns damit gegenseitig umzustoßen. Überhaupt erlangten wir große Geschicklichkeit, wir liefen, sprangen und tanzten auf unseren Stelzen fast so flink und sicher wie zu Fuße. Aber der beste Schwimmer ertrinkt, sagt man, und der beste Fechter wird erstochen. So konnte es denn geschehen, daß auch ich mit meiner Stelzerei beinah den Hals brach.

Die Straßenjugend hatte auf der winterlichen Promenade vor unserem Hause eine Glitschbahn eingefahren, oder – mit dem technischen Ausdruck – eine Schinder ausgerissen, die mich natürlich auf den Einfall brachte, meinem Gaul das Schindern beizubringen. Einen Anlauf nehmend, sprang ich frisch auf die Bahn; aber anstatt gleichmäßig fortzugleiten, fuhren die langen Stelzenbeine nach verschiedenen Weltgegenden auseinander, das Gerüst schlug unter mir zusammen und ich dermaßen aufs Eis, daß die Besinnung augenblicklich weg war.

Die Frau des benachbarten Töpfermeisters Thomas hatte im Fenster gesessen und mich stürzen sehen; sie eilte heraus, nahm mich in die Arme und trug mich der nicht wenig erschrockenen Mutter zu; denn ob ich tot oder lebendig sei, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Ich erholte mich indessen schnell und war bald so weit genesen, daß ich der Frau Nachbarin persönlich meinen Dank abstatten konnte. Da wurde denn gleich große Freundschaft geschlossen, und von dieser Zeit an verfehlte ich nicht, die Töpfersleute häufig zu besuchen. Es waren freundliche Menschen; aber mehr noch zog mich die Werkstatt an, wo keineswegs bloß Töpfe, sondern auch Köpfe und mannigfaltige andere Kunstwerke gefertigt wurden. Die schönen, aus weichem Ton geformten Arabesken, Löwen, Greife, Sphinxe und niedlichen Gewandfiguren nach antiken Mustern gefielen mir fast besser als die Bilder meines Vaters, wenn sie so überraschend fertig und wohlgeboren, wie die Minerva aus dem Haupt des Jupiter, aus ihrer klumpigen Form hervorgingen.

Daß mein Bruder, sobald er von diesen Wundern hörte, mich zu begleiten pflegte, ist selbstverständlich. Wir gingen wie andere ernste Arbeitsleute in der Werkstatt ein und aus, und während die Töpfer töpferten,[76] kneteten wir nicht minder allerlei Kuriosa aus ihrem Ton, wobei wir nicht allein ihre Mienen und Gebärden nachzuahmen strebten, sondern auch alle Werkzeuge beanspruchten, deren jene sich bedienten. Für solche Teilnahme luden uns die guten Leute denn auch wohl sonntags zu ihrer Mahlzeit ein. Dann war im Töpferhause alles neu und anders, die Werkstatt geschlossen, in Flur und Zimmer weißer Sand gestreut, und selbst der Meister Thomas – an Werkeltagen von seinen Tonklumpen wenig unterschieden – erschien im veilchenblauen Frack mit buntgeblümter Weste und weißer Binde. Er war ein korpulenter, etwas schnaufender Mann, der mir in seinem Staate den vollkommensten Respekt einflößte.

Es mochte sein, daß die Obersachsen damals das gebildetste Volk in Europa waren, wenigstens hielten sie sich selbst dafür, und wirklich zeichnete sich der Bürgerstand, vorzugsweise der Dresdner, durch angeerbte Urbanität und eine Höflichkeit aus, die, sooft sie auch von den Barbaren verlacht ward, im Grunde doch jedermann wohl tat. Unsere Töpfersleute aber konnten in jeder Beziehung als Sachsenspiegel gelten, daher meine Mutter uns ohne Sorge mit ihnen verkehren ließ. Nicht nur mit Fremden, sondern auch untereinander benahmen sie sich aufs wohlanständigste; nie hörte man ein unbemessenes Wort, und der ganze Hausstand zeugte nicht nur von Wohlstand, sondern auch von althergebrachter, guter Zucht und Ordnung.

Vor jeder Mahlzeit wurde von der Hausmutter laut gebetet. Dann erst setzte man sich, und verspeiste zwar die meisten Gerichte auf nächstem Wege, gleich aus der Schüssel, aber doch mit solcher Sauberkeit, daß mich kein Ekel ankam. Dazu sah man's den Leuten an, daß ihnen der Bissen, den sie in den Mund schoben, nichts weniger als selbstverständlich war, sie ihn vielmehr als Gottes Gnadengabe respektierten. Besondere Ehrfurcht wurde dem Brote gezollt, welchem man eine Art von Heiligkeit beizulegen geneigt schien. Kugeln daraus zu drehen oder es sonst zur Belustigung zu kneten, galt für den heillosesten Frevel, daher mir, als ich gelegentlich in diese Sünde verfiel, eine ernste Rüge zuteil ward. Zum Kneten, sagte mir Frau Thomas, wäre der Ton; das liebe Brot aber sei eine Gabe Gottes, nicht zum Spielen, sondern zur Notdurft und Nahrung des Leibes. Wer es nicht achte, zeige, daß er satt sei; den Satten aber werde Gott auch andere Speise entziehen und sie den Hungrigen geben.

Diese Rede beschämte mich nicht wenig und machte auf mich daher so tiefen Eindruck, daß ich sie nicht vergessen habe. Frau Thomas würde zwar nicht gescholten haben, wenn ich die Kugeln aus Wachs gedreht und hernach weggeworfen hätte, obgleich man mehr Geld für Wachs zahlt als[77] für Brot; auch hatte sie nichts dagegen, daß ich meine Knallbüchse mit Stücken roher Kartoffeln lud, die sie mir zu diesem Zweck selbst lieferte, obgleich Kartoffeln doch auch zur Notdurft und Nahrung des Leibes dienen. Es ist aber weder der Geldwert noch die Genießbarkeit, die dem Brote diesen Nimbus gibt, sondern die Idee, die wir, seitdem man das Vaterunser betet, damit verbinden, die hohe Idee nämlich des Inbegriffs aller von Gott zu erbittenden leiblichen Bedürfnisse, zu welchem Brote Luther sogar »fromm Gemahl, gut Regiment und gute Nachbarn« zählt.

Jahrelang bin ich bei meinen lieben Thomaschristen ein und aus gegangen, bis der Tod auch ihr Familienleben sprengte. Ich habe dort nur Dankenswertes genossen und fühle mich daher auch jenem Stelzensturz verpflichtet, der mich zu ihnen führte, wie ich denn überhaupt die Erfahrung gemacht habe, daß sogenannte Unfälle häufig weiter nichts sind als die Eintrittspreise zu großen Freuden. Zunächst war es ein anderer, nicht minder halsbrechender Sturz, dem ich das Vergnügen meiner ersten Fußreise verdankte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 75-78.
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