Der Sprachlose

[78] Unser Hauswirt mußte Gelegenheit gehabt haben, sehr wohlfeil Holz zu kaufen, denn in dem Gärtchen hinter seinem Hause stand ein reicher Vorrat für viele Jahre aufgeklaftert. Dies öde Gärtchen, ohnedem schon ein Bild des verfluchten Ackers, hatte damit den höchst denkbaren Grad von Ödigkeit erreicht. Aber Kinder und Wahnsinnige fragen wenig nach dem Aussehen der Wirklichkeit, die ihrer schöpferischen Phantasie doch nur zur Unterlage dient, unwirkliche Luftschlösser daran aufzubauen. So vertrug auch ich mich prächtig mit jenen Holzstößen, die ich nicht hätte missen mögen und die mir unendlich mehr Genuß gewährten als elegante Blumenrabatten und alles, was man sonst zum Schmuck der Gärten rechnet. Ich kletterte daran herum, überstieg sie wie Gebirge oder sah sie für Schlösser und Kastelle an, die man stürmen und verteidigen konnte.

Von der höchsten dieser Burgen hatte ich förmlichen Besitz ergriffen. Sie lehnte sich an die Gartenmauer und reichte bis unter die Kronen der alten Linden des Nachbargartens, die ihr Laubdach darüber breiteten. Unter diesem Blätterdache, vor aller Welt versteckt, verträumte ich die genußreichsten Stunden, hörte aus nächster Nähe die Maikäfer im Gezweige brummen und roch den süßen Duft der jungen Lindenblätter.[78]

Als ich nun eines schönen Nachmittags, dort oben im labendsten Laubschatten sitzend, mir aus der reichlich vorhandenen Kiefernrinde ein Schiffchen schnitzte, bemerkte ich über mir etwas, das einem Neste glich. Um besser sehen zu können, schob ich mich weiter rückwärts, und immer weiter, bis ich, in völligem Vergessen meiner Situation, dem Rande des Holzstoßes so nahe kam, daß der Schimmel plötzlich alle war. In einer Hand das offene Messer, in der anderen das angefangene Rindenschiffchen, schlug ich hintenüber und stürzte etwa sieben Fuß tief gerade auf den Rücken.

Durch Gottes gnädige Bewahrung hatte ich nicht den Hals gebrochen. Ich sprang sogleich wieder auf und wollte auf den Schreck tief aufatmen – aber die Respirationswerkzeuge versagten ihren Dienst. Nach mehrmaligen vergeblichen Anstrengungen, Luft zu schöpfen, erfaßte mich eine Höllenangst. Ich lief zu meinem Bruder, der im verfallenen Lusthäuschen hockte und Maikäfer aufmarschieren ließ, ihm meine Not zu klagen; aber ich vermochte keinen Laut hervorzubringen und mühte mich mit verzweifelten Gestikulationen fruchtlos ab, nur einigermaßen verständlich zu werden. Darüber war der Kleine, der keine Ahnung von meinem Unfall hatte und alles für Narrenteiding hielt, dermaßen aufgeheitert, daß er sich fast überschlug vor Lachen. Um ihn zum Ernst zu zwingen, war ich in meiner Todesangst schon nahe daran, ihm in die Haare zu fahren, als endlich das Hindernis zu weichen schien und ich mit Mühe einige Luft bekam. Oh! besser hat mir nie ein Labetrunk geschmeckt als dieser halbe Kubikzoll Lebensluft, für den ich ja gern alle meine Papiersoldaten hingegeben hätte.

»Ich bin von der Burg gefallen«, sagte ich. Da merkte der Kleine auf und wurde nun ebenso teilnehmend, als er vorher lustig gewesen war, rieb mir auf mein Verlangen auch den Rücken aus Leibeskräften, bis die Respiration sich wenigstens insoweit hergestellt hatte, daß der Gang ins Haus und die Treppen hinauf unternommen werden konnte.

Der herbeigerufene Arzt verlangte fortgesetzte Bewegung in freier Luft, und schon am nächsten Morgen machte Senff sich mit uns und den Volkmannschen Kindern auf den Weg nach dem etwa drei Meilen entfernten Tharandt. Von dieser kleinen Reise ist mir wenig und doch sehr viel geblieben, die Erinnerung nämlich einer ungewöhnlichen Glückseligkeit. In der Tharandter Gegend wanderten wir unausgesetzt umher, zwischendurch an schönen Punkten lagernd, bis meine Beklemmung nach vier bis fünf sonnigen Frühlingstagen ziemlich spurlos verschwunden war und wir zu unserer gewohnten Lebensordnung nach Dresden zurückkehrten.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 78-79.
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