Abermals eine Lustreise

[80] In der politischen Welt gab's ausnahmsweise Frieden, aber wie Napoleon ihn zu machen pflegte, einen Frieden, der die Keime neuen Krieges in sich trug. Die beiden Machthaber jener Zeit, Napoleon und Alexander, hatten sich zwar zu Erfurt mit brüderlicher Liberalität um den Weltteil vertragen, aber die Folgen dieses Vertrages schienen beiden bald nicht mehr erträglich. Schon im folgenden Jahre entfremdete man sich wieder, denn weder hatte Rußland während des österreichischen Krieges von 1809 den französischen Erwartungen genuggetan, noch entsprach der Wiener Frieden den russischen. Die darauf folgenden Übergriffe Frankreichs in Norddeutschland endlich sowie die fortgesetzte Umgehung der Kontinentalsperre von seiten Rußlands waren nicht geeignet, das gegenseitige Vernehmen wieder herzustellen. Zwischen beiden Mächten erfolgte ein unfruchtbarer Notenwechsel, und unsere estländischen Verwandten mahnten schon im Sommer 1810 ernstlich zur Rückkehr, damit mein Vater von seinen Kapitalien, die in Rußland standen, nicht abgeschnitten würde.

So geschah es denn, daß die alten Pläne wieder auftauchten. Der gelbe Wagen wurde abermals aus seiner Remise gezogen, genau geprüft und dem Sattler behufs einiger noch anzubringenden Bequemlichkeiten übergeben. Man sprach davon, das Mobiliar samt allem Entbehrlichen unter dem Hammer zu verkaufen, und wegen der Spedition der Bilder und anderer Sachen, von denen man sich nicht trennen wollte, ward mit Sachverständigen beraten. Daß die Reise mit nächstem Frühjahr fortgehen werde, konnten wir Kinder daher kaum bezweifeln, und unsere Phantasie entzündete sich im voraus an den Freuden und Gefahren weiter Wanderung.

Indessen lag es in der Eigentümlichkeit des Vaters, daß er, durch augenblickliche Eindrücke angeregt, Pläne entwerfen und bis ins Detail verfolgen konnte, die sich nachher ganz von selbst verzettelten und vergessen wurden. So entsinne ich mich, daß etwa im Jahre 1808 mit großer Entschiedenheit von einer Übersiedelung nach Rom geplant und alle Freunde dadurch alarmiert wurden; ja, sogar von Konstantinopel war die Rede, als von dem schönsten Fleck der Erde, wo man wohnen müsse, nur daß man warten wollte, bis die Russen es erobert hätten.

Mein Vater war ein selbständiger Mann; er konnte wohnen, wo er wollte, und es mochte ihn erquicken, sich dieser seiner Freiheit von Zeit[80] zu Zeit bewußt zu werden. Im Grunde aber war er doch mit seinem dermaligen Aufenthalte so zufrieden, daß er sogar einen sehr vorteilhaften Ruf an die Berliner Akademie ausschlug, es vorziehend, in Dresden Titularprofessor ohne Gehalt zu werden. So waren denn auch die russischen Pläne, als die Zeit herankam, wieder verdampft, diesmal vielleicht, wie immer, aus sehr vernünftigen Gründen, denn bei näherer Erwägung mochte es einleuchten, daß der Aufenthalt in einer voraussichtlich friedlich bleibenden Stadt einer Ansiedelung auf dem Kriegsschauplatze mit Kind und Kegel vorzuziehen sei.

Ich freilich, in den bereits die Unruhe des Wandervogels gefahren war, dachte anders. Die Lust nach einer Ortsveränderung war mir in Saft und Blut gedrungen, und das gewohnte Leben hatte ich bereits so ausdrücklich zu Grabe getragen, daß mir diese wiederauflebende Leiche fast entsetzlich war. Ich griff daher mit Freude nach einer kleinen Schadloshaltung, die mir die Gunst der Umstände gewährte. Mein Lehrer Senff wollte nämlich seine Eltern besuchen, die in Halle lebten, und hatte sich's erbeten, mich mitzunehmen. Das gab doch wenigstens eine Reise, und wie ich heute glaube, war es die genußreichste, die ich in meinem Leben machte.

Wohl mancher geht zu seinem Vergnügen nach Paris und London und kehrt enttäuscht zurück, weil er, wie Nicolai in Italien, wohl Hitze, Unbequemlichkeit und Flöhe, aber nicht das gefunden hatte, was er suchte, nämlich das Vergnügen. Ich dagegen fand davon viel mehr, als ich erwartet hatte. Halle ist zwar eigentlich ein Ort, den keiner zum Vergnügen aufsucht. Wenn man die berühmten Namen einiger Lehrer der Hochschule abzieht, möchte wenig Nennenswertes übrigbleiben, und Lehrer sind kein Gegenstand des Verlangens für Knaben meines Alters. Die Güte und Freundlichkeit aber, welche ich damals dort erfahren, hat mir die düstere Braunkohlenstadt so lieb gemacht, daß mir das Herz noch heute warm wird, wenn mein Weg mich durchführt.[81]

In einem leichten Korbwägelchen, das Senff selbst regierte, verließen wir Dresden an einem schönen Sommermorgen des Jahres 1811. Wir rollten vergnügt zum weißen Tore hinaus, die Elbe entlang bis Meißen, wo wir Mittag machten und den berühmten Dom besuchten, dessen Inneres mir, trotz meines Unverstandes, ja vielleicht auch gerade wegen dieser Eigenschaft, den lebhaftesten Eindruck machte. Ganz besonders nämlich interessierte mich ein Gegenstand, der von Kennern sonst nicht sonderlich beachtet wird und auch uns nur im Vorübergehen gezeigt ward. Es war dies ein altes Tabernakel des hohen Chors, dessen Schmucklosigkeit sich von einem gewöhnlichen kleinen Wandschränkchen, um Brot und Käse zu verwahren, in gar nichts unterschied. Aber sehr deutlich vernahm das Ohr zu jeder Zeit in seiner Höhlung einen sonderbaren Ton, sehr ähnlich dem Wogen und Wallen gewaltiger Feuerflammen. In katholischen Zeiten, erzählte der Küster, habe man geglaubt, es sei dies ein vermauerter Zugang zum Fegefeuer, während man jetzt nicht wisse, wie jener Ton entstehe. Nun behauptete zwar Senff, daß alles ganz natürlich sei. Es könne angenommen werden, meinte er, daß sich hinter der Rückwand dieses Schränkchens ein unterirdischer Gang hinziehe, der einen Luftzug ermögliche, durch welchen der flackernde Ton veranlaßt würde, vielleicht eine Vorrichtung aus alter Zeit, das abergläubige Volk zu schrecken. Aber die erbaulichen Eindrücke des alten Doms, unter deren Einflüssen ich stand, schienen mir so profane Deutung nicht wohl zuzulassen, und weil ich überdies meinte, Luftzüge von Feuerflammen unterscheiden zu können, neigte ich mich still für mich jener katholischen Ansicht zu und entsinne mich kaum, daß mir in meinem späteren Leben je eine Bußpredigt tieferen Eindruck gemacht hätte als diese demonstratio ad aures, die alle Zweifel über den Haufen warf. Fegefeuer und Hölle verwechselte ich freilich, und warum, dachte ich, sollte es nicht möglich sein, daß die Alten einen Zugang zur Hölle gefunden? Und warum auch hätten sie sonst den Schlund vermauert, der sich nach Senffs Meinung hinter der Nische befand?

Ich war nicht wegzubringen von dem Loche. In vorgebeugter Stellung, mit verhaltenem Atem, mit runden Augen und offenem Munde horchte ich in die rätselhafte Höhlung hinein, dem gespenstischen Lodern unsichtbarer Flammen lauschend, bis Senff mich bei der Hand ergriff und wegzog. Aber wie ein Träumender durchwanderte ich fortan die weiten Räume, indem meine Gedanken einzig bei jenem schauerlichen Orte weilten, da keine Liebe mehr ist, kein Glaube und keine Hoffnung.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 80-82.
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