Der Pfarrgarten

[82] Nach drei Tagen, die sehr heiß und staubig waren, langten wir mit unserem Pferdchen in Halle bei Senffs Eltern an, die mich freundlich bei sich aufnahmen. Senffs Vater war der erste Pastor, den ich Gelegenheit hatte, von nahem zu besehen, und der erste und älteste einer langen Reihe guter Männer, die ich später in diesem Stande kennenlernte. Die heitere Würde seines Wesens wie die sorgfältige Güte seiner Frau ließen mich so schnell heimisch werden, daß ich die beiden lieben Alten nach ihrem Wunsche schon am ersten Abend Großvater und Großmutter nennen konnte.

Nicht minder gefiel mir ein drittes Figürchen, ein niedlicher Backfisch von etwa dreizehn Jahren, namens Lorchen, wenn ich nicht irre, eine verwaiste Verwandte des Senffschen Hauses, an der die treue Sorgfalt der Großmutter Senff sich für spätere Jahre Trost und Stütze erzog. Lorchen nahm mich bald bei der Hand und führte mich durch die Hintertür des Hauses in den Garten, dessen Schönheit mich höchlich überraschte. Die abendliche Kühle, die einem hier entgegenduftete, durchwürzt vom Wohlgeruch der weißen Lilien, die in niegesehener Fülle zwischen Zentifolien blühten, war nach der heißen Fahrt auf staubigen Chausseen so erquicklich, daß man denken konnte, ins Himmelreich versetzt zu sein. »Hier wollen wir alle Tage spielen«, sagte Lorchen, »und ich will dir alles zeigen.«

Der Garten mochte in der Tat recht schön sein, wenigstens war er im Vergleich zu unserem Dresdner Holzstall ein Paradies. Von hohen Mauern eingefriedigt, glich er jenen kleinen, traulichen Klostergärtchen, deren Hauptreiz in ihrer Heimlichkeit besteht. Im Rücken hatte man das Pfarrhaus mit seinen Nebengebäuden. Rechts lief eine Langwand der altersgrauen Moritzkirche hin mit ihren Spitzfenstern und Strebepfeilern, deren tiefe Winkel mit Syringen und anderen Gesträuchen ausgepflanzt waren. Dem gegenüber erhoben sich ein paar mit Efeu verkleidete Brandmauern benachbarter Gebäude, und geradeaus war es ein Teil der alten krenelierten Stadtmauer, der das Ganze von der vorübergehenden Saale abschloß. Das Innere des Gärtchens war seiner altertümlichen Einfassung ganz angemessen. Rechtwinklige, mit Buchsbaum eingefaßte Kieswege, an die sich blumige Rabatten schlossen, durchschnitten die üppigen, hier und da mit Zwergbäumen bestandenen Erdbeer- und Gemüsequartiere, und um das Lusthäuschen, das sich an[83] die obberegte Stadtmauer lehnte, standen in Kübeln Myrten, Oleander und Lorbeerbäumchen. So wenigstens schwebt mir die Örtlichkeit noch vor.

Wir gingen den breiten Hauptweg hinunter und traten in das Gartenhäuschen. Ein süßer Blumenduft erfüllte das kleine Gemach, und auf dem Tische stand ein Tellerchen mit Erdbeeren, die Lorchen vorsorglich für mich gepflückt hatte. Sie lehrte mich auch, die zarten Früchte mit steifem Grashalm spießen und zierlich verspeisen, und half selbst dabei getreulich. Dann erkletterten wir miteinander die Stadtmauer, uns umzublicken. Wir nahmen Platz in einer alten, halbverfallenen Schießscharte, aus deren Gestein eine Fülle wilder Blumen, Kamillen, Kampanulen und wilder Salbei hervorwucherten, und waren bald die besten Freunde. Lorchen erklärte mir die Aussicht auf Strom und Vorstadt, deren wir uns hier erfreuten, und wußte von den Halloren Erstaunliches zu erzählen, bis mein Auge und meine Fragen endlich an der alten Kirche hafteten. Die wollte sie mir auch noch zeigen, und wir durchschritten abermals den Garten, im Vorübergehen die dicken Stachelbeeren prüfend, die eben zu reifen begannen. Durch ein kleines Seitenpförtchen, welches Lorchen öffnete, traten wir in die Kirche ein.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 82-84.
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