Die Neuigkeit des Stiefelputzers

[110] Die politischen Ereignisse gingen ihren Gang und wurden in unserem Hause aufs lebhafteste besprochen. Zwar las mein Vater keine Zeitung, weil er keine Zeit dazu zu haben meinte; unser Hausarzt aber und treuer Freund, der Dr. Pönitz, las dafür jede. Er war, wie viele seiner Fachgenossen, ein lebendiges Tageblatt und kam zur Zeit und Unzeit, das Haus mit Nagelneuestem zu alarmieren.

Meine Eltern hatten die kolossalen französischen Armeen, geführt von den größten Feldherren der Zeit, nicht ohne Besorgnis nach Rußland ziehen sehen; daß aber dies riesige Reich so rasch und fast im Umsehen[110] erobert werden würde, hatten sie sich nicht träumen lassen. In der Dresdener Hofkirche ward ein Tedeum nach dem anderen abgesungen zur Verherrlichung der siegreichen Fortschritte des großen Kaisers, bis endlich der Sturz des altehrwürdigen Moskau die Alleinherrschaft Napoleons über den Kontinent zu begründen schien.

Nichtsdestoweniger baute meine Mutter noch auf Alexanders kaiserliches Wort, daß er nicht Frieden schließen werde, solange sich ein feindliches Bajonett auf russischer Erde zeige. Allein der Vater meinte, Napoleon sei jetzt Herr in Rußland, und der Friede werde sich ganz von selber schließen, eine Aussicht, die trostloser als jeder Krieg schien.

Da brachte der getreue Pönitz, anfänglich zwar nur als unverbürgtes Gerücht, die sich bald bestätigende Nachricht von dem schauerlichen Brande Moskaus. Man kannte den Hergang jedoch nicht und wußte nicht, ob man dies Ereignis zum Vorteil oder Nachteil deuten solle, bis ein Brief aus der fernen Heimat meiner Mutter den Weg zu uns gefunden und von dem Aufschwunge der öffentlichen Meinung wie von der Siegeszuversicht erzählte, welche infolge jenes Brandes ganz Rußland belebe und alle Stände zu jedem Opfer begeistere.

So durfte man denn wieder hoffen. Es war nicht unwahrscheinlich, daß solche Entschlossenheit Erfolge haben müsse, und diese Hoffnung schien sich denn auch bald in allerlei Gerüchten zu realisieren, die sich mit Eintritt des Winters häuften und rasch von Mund zu Munde flogen. Jetzt wußte Pönitz viel zu sagen von ernstlichen Verlegenheiten der großen Armee, von Hunger, Frost und Blöße, von schrecklicher Bedrängnis, unglücklichen Gefechten, Rückzug und Flucht, und immer lauter und kecker wurden die Gerüchte, obschon die offiziellen Berichte noch längere Zeit zu täuschen suchten. Gewisses war nicht zu er fahren, und die Spannung steigerte sich ins Ungeheure.

»Was gibt es Neues?« Das war die herrschende Phrase jener Zeit und die gangbare Rede, mit der sich jedermann begrüßte. »Was gibt's Neues, Blanke?« so pflegte mein Vater auch seinen Stiefelputzer anzureden, einen alten verdrossenen Mann, der für den abermals zu Felde liegenden Talkenberg vikarierte und, wenn es ihm überhaupt zu antworten beliebte, sich wohl herbeiließ, etwas von den Neuigkeiten mitzuteilen, die er auf seinen Gängen in die Stadt erfuhr. Nun mochte es etwa gegen die Weihnachtszeit sein, als der Alte sich auf obige Frage hinter den Ohren kratzte und gleichgültig erwiderte, er wisse nischt – außer etwa nur das, daß der Napoleon in der Nacht eingepassiert wäre.

»Wer sagt das?« rief mein Vater, indem er aufsprang und den alten Brummbär bei den Schultern packte. »Nu, nu!« – erwiderte der – »wer soll's denn sagen; die Leute sprechen's.«[111]

Der Vater ließ alles stehen und liegen, eilte in die Stadt und kam bald mit der Bestätigung der großen Novität zurück. Napoleon war wirklich angekommen, unangemeldet, allein und ohne alte oder junge Garde. Ganz überraschend war er halberfroren bei seinem Gesandten vorgefahren, hatte diesen aus den Federn geschreckt, sich in sein warmes Bett gelegt und war vor Tagesanbruch schon wieder abgereist. Der Hiobspost von dem Untergange der Armee vorauseilend, hatte er Norddeutschland wie ein Blitz durchzuckt, um in ein Dresdener Bett zu schlagen; dann zuckte er weiter bis Paris.

Der alte Blanke bekam für seine Nachricht einen Taler, und die zahlreich vorsprechenden Freunde tranken vom besten Rheinwein, den wir im Keller hatten. So wackere Gesichter hatte man lange nicht gesehen, denn wenn Napoleon als sein eigener Kurier die Armee verlassen hatte, so mußte ihm das Wasser reichlich an die Kehle gehen.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 110-112.
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