Der Rückfall

[132] Es war am Morgen des 10. Mai, als die russischen Kanonen ihre letzten Adieus nach der Altstadt sandten, und bald darauf bestand die ganze russische Besatzung unserer Neustadt wieder einmal nur aus dem Onkel[132] Georg und seinem Reitknecht. Er war abermals allein zurückgeblieben, vielleicht um den Genuß verwandtschaftlichen Beisammenseins soweit als möglich auszudehnen. Unterdessen bauten die Franzosen, die keine Schiffe mehr ins Wasser ließen, sehr eifrig an der Brücke. In kürzester Frist konnten sie erwartet werden.

Unter solchen Umständen imprimieren sich die Erlebnisse. Mein Vater und der Onkel schritten Arm in Arm durchs Zimmer, die nächste Zukunft besprechend, die Mutter saß schreibend an ihrem Pult. Sie wollte ihrem Vetter einige Zeilen der Empfehlung an Graf Dohnas mitgeben nach Hermsdorf, das er passieren mußte. Wir Kinder aber verließen das Fenster nicht, beharrlich ausschauend, ob sich noch keine Franzosen auf der Brücke zeigten. Dort saß Napoleon, wie wir wußten, in einem Pfeiler, mit der Uhr in der Hand die Zimmerleute treibend.

»Da kommt schon einer«, rief mein Bruder, und alles sprang ans Fenster. Von der Elbseite her jagte ein einzelner Reiter die Straße herauf und saß vor unserem Hause ab. Ob Feind oder Freund – wer konnte es wissen. Aber da ging auch schon die Türe auf, und herein trat ein trefflich schöner Mann von ritterlichem Aussehen. Ähnlich den Braunschweiger Husaren, war er ganz schwarz gekleidet, trug eine breite eiserne Kette um den Hals und ein Schwert an der Seite. Ich glaubte einen Helden aus der Ehrenzeit des weiland Deutschen Reiches zu sehen, und empfangen ward er, als wäre er ein solcher. Er wurde Graf Gröben genannt und war, wie ich später erfahren, derselbe Gröben, der schon Anno neun im Verein mit dem Grafen Dörnberg den hessischen Aufstand leitete. Wie er sich zu uns gefunden und ob er überhaupt meine Eltern oder den Onkel schon früher kannte, weiß ich nicht; ich hörte nur, daß er, seit Tagen von den Seinigen versprengt, soeben durch die Elbe geschwommen sei. Bei dieser Gelegenheit war nach ihm geschossen worden, auch war sein Pferd verwundet, und er selbst mochte der Erquickung wohl bedürftig sein, welche die Mutter ihm eilig reichte. Doch war eigentlich er es, der die übrigen erquickte, denn sein ganzes Wesen trug das Gepräge ungebeugten Mutes, und seine Worte waren die eines gottbegeisterten Propheten, der die Ketten seines Volkes fallen sieht und Gott im voraus preist. Ein herrlicher Mensch, dem unser aller Herzen zuflogen.

Als der Graf etwas gegessen und es zum Abschied kam, stand er noch[133] lange vor dem Bilde der Heiligen Jungfrau, die mit seliger Ruhe auf ihn niederblickte, und konnte sich an dem Anblicke dieses stillen Friedensangesichtes nicht satt sehen, bis mein Vater ihn hinwegzog. Wir gingen alle mit hinab in den Hof. Die Pferde standen am Röhrbrunnen; das des Grafen blutete und schien müde; als es aber seinen Reiter fühlte, warf das edle Tier den Kopf auf und trug ihn an der Seite seines Kameraden ungefährdet nach dem benachbarten Hermsdorf, wo beide Kriegsgenossen, gastlich empfangen, noch einen schönen Friedenstag verlebten. Uns aber war es zumute, als hätten die Engel Gottes uns verlassen.

Kaum waren unsere Freunde fort, so schloß sich der »Gottessegen« gleich einer Zitadelle. Die eisernen Fensterläden des Erdgeschosses wie die schweren Flügel der Haustüre wurden eingeriegelt und letztere überdem noch von innen mit starken Balken gesperrt. Das kleine Pförtchen in der Gartenmauer, das auf die einsame Ränitzgasse führt, konnte im Notfall zur Flucht dienen. Man dachte sich die Franzosen sehr erbost wegen des jubelnden Empfanges, den die Kosaken in der Neustadt gefunden hatten.

Etwa zehn Minuten nach Abzug unserer letzten Beschützer sahen wir aus der Ferne das Aufblitzen und Funkeln der französischen Bajonette. Es hatte von unserem Fenster aus den Anschein, als ob sich ein breiter Lichtstrom von der Brücke in die Neustadt wälze, die denn auch in wenigen Minuten von Franzosen überschwemmt war. Wir waren in die Botmäßigkeit Napoleons zurückgesunken.

Unsere Besorgnisse wegen Plünderung erwiesen sich übrigens als eitel. Die Franzosen hielten gute Ordnung und zogen weiter, wie sie kamen, den Russen auf der Bautzener Straße folgend. Andere Regimenter rückten freilich nach, und die Stadt blieb überfüllt mit Militär. Dresden ward zum Waffenplatz und zur Basis aller weiteren Operationen Napoleons, und da bei so bewandten Umständen an eine baldige Wiederkehr eines ruhigen Verkehrens auf den Straßen nicht zu denken war, ein Sieg der Verbündeten auch die Neustadt von der Altstadt abermals getrennt hätte, so mußte für uns Kinder von der entlegenen Haanschen Schule abgesehen werden. Die Eltern nahmen uns dort wieder weg, und ich sagte diesem Institute gern Valet.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 132-134.
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