Gemüts- und Fußbewegung

[140] Nach diesen Abschweifungen wende ich mich nun wieder dem Schönbergschen Hause zu und dem Anteile, den es an meiner Menschenbildung hatte. Zu jener Zeit nämlich, als wir das Haansche Institut verließen, hatten Schönbergs meinen Eltern das freundnachbarliche Anerbieten gemacht, uns Kinder an dem häuslichen Unterrichte der ihrigen Anteil nehmen zu lassen – ein Vorschlag, der dankbar angenommen wurde. Namentlich war ich sehr einverstanden mit diesem Arrangement, da mir der Lehrer, Herr Magister Schulz, wegen seines freundlich sanften Wesens schon früher wohlgefallen hatte. Ich war ihm gut und lernte daher auch gut bei ihm.

Zum ersten Male fand ich jetzt Vergnügen am Lateinischen, und selbst die Rechenstunde war zu ertragen. Wir rechneten um Pfeffernüsse; wer's zuerst hatte, steckte seine Nuß ein. Und wie sehr interessierte mich die mathematische Geographie! zu hören, wie die Erde sich am unsichtbaren Faden um die Sonne schwinge, wie Tag und Nacht entstehen und die verschiedenen Jahreszeiten! Auch in der Logik machten wir einen Anfang zur Regulierung der Begriffe; Geschichte und Naturgeschichte waren angenehme Promenaden durch die Wunder Gottes im Menschengeiste und in der Natur.

Vor allem aber zogen mich die Religionsstunden an, die ersten in meinem Leben, vielleicht weil sie weniger regelrechtem Unterrichte als[140] vielmehr Erbauungsstunden glichen, bei denen man sich ganz passiv verhalten konnte. Der Lehrer wirkte ausschließlich aufs Gefühl, ohne uns mit Memorieren oder Schreibereien zu belästigen. Er las uns zu dem Ende einen Abschnitt aus dem Evangelium vor und sprach darüber oft so rührend, daß ich mich entsinne, wie wir bisweilen alle miteinander, nicht nur wir Kinder, sondern auch der Herr Magister selbst mit seinem tiefbewegten, pockennarbigen Gesicht, in Tränen der Rührung zerflossen.

Schulz war Rationalist; er konnte uns deshalb nichts Positives geben und ließ uns in der Tat ganz unwissend in allen wesentlichen Elementen des Christenglaubens. Was er indessen selber hatte, das gab er uns. Er erwärmte unsere Herzen für die Schönheit der Tugend Christi und suchte uns zur Nachfolge anzureizen. Auch sprachen seine gemütlichen Vorträge mich in so hohem Grade an, daß sie mich zum wiederkäuenden Tiere machten. Was ich behalten, schrieb ich nachher zu Hause aus eigenem Antrieb nieder, mich noch einmal daran erbauend.

Mit diesen Stunden hoher Weihe kontrastierten andere, welche zunächst nicht die Rührung des Herzens, sondern die der Füße bezweckten. Die Schönbergschen Kinder waren nämlich auch mit Tanzunterricht behaftet, an dem wir gleichfalls teilnehmen durften. Zu dem Ende erschien zweimal in der Woche ein entsprungener russischer Leibeigener, namens Fededoff, der in Dresden als Tanzmeister blühte, und stülpte unsere Füße von den Hacken auf die Spitzen.

Ich gestehe frei, daß diese Sache anfänglich nicht ohne Bedenken für mich war, weniger wegen des Zwanges, den ich dabei zu erleiden hatte, als vielmehr wegen der vier kleinen Mädchen aus der Schönbergschen Verwandtschaft, die sich mit weißen Handschuhen und netten Kleidern dazu einzufinden pflegten. Nicht daß sie so fürchterlich gewesen wären, auch ging Freund August zutraulich genug mit ihnen um, aber ich konnte ihm das nicht nachtun. Die kleinen bunten Wesen waren mir zu fremd, sie genierten mich, und ich dachte, daß ich in ihren Augen ein Einfaltspinsel wäre.

Dennoch geschah das Wunder, daß gerade sie es waren, oder vielmehr war es eine von ihnen, die mich mit der Tanzstunde versöhnte. Die kleine Hexe hieß nach ihrer Tante Schönberg Katharina, wurde auch Kathinka oder Käthchen genannt, wie's gerade kam, und war ein feines Kind. Mir fiel zuerst die Grazie ihrer Bewegungen auf, dann ihr eigentümlich zartes Aussehen, das ich der Blüte des Sauerklees vergleichen möchte. Je öfter ich sie sah, desto besser gefiel sie mir, sie stahl sich immer tiefer in mein Herz, und ich hatte bald nur Augen für sie allein. Dennoch wagte ich es nicht, ihr zu nahen, ja, so erhaben schien sie mir[141] in ihrer Anmut, daß, als wir endlich von den ersten Vorübungen, den Verbeugungen, Knicksen und einzeln einstudierten Pas zum eigentlichen Tanzen übergingen, mir der Mut fehlte, gerade sie aufzufordern.

In der Tat, wenn die Mädchen nicht aggressiver wären als wir, so achte ich dafür, es sei unmöglich, daß jemals ein Paar zustande käme. Käthchen fing selbst an. Sie war es, die mir eines Morgens mit großer Freundlichkeit das erste Tänzchen proponierte. Oh, da ging's prächtig! Der Meister Fededoff rief »Bravo!«, und Käthchen flüsterte mir zu, sie hätte mich recht lieb, und ich sollte sie bald wieder holen. Hatte mich doch vordem schon der bloße Anblick ihres Hütchens oder Schleiers bewegt, wenn ich diese Dinge im Vorzimmer liegen sah, und nun gar hielt ich das kleine Wesen selbst in den Händen, flog mit ihr durch den Saal hin, und nahm mir's gar nicht übel, wenn ich ihr sagte, daß ich mit ihr am allerliebsten tanze.

Zu weiteren Erklärungen zwischen uns kam's nicht, und sie wären auch unnütz gewesen, da sie nur Wiederholungen der ersten sein konnten. Aber Katharina war fortan meine Kaiserin. Ich lebte ihr zu Dienst, ich sah ihr alles an den Augen ab, und vor dem Hause, da sie wohnte, ging ich mit gezogener Mütze vorüber, obgleich ich wußte, daß ihre Zimmer nach dem Garten lagen. Mein einziger Vertrauter in dieser Sache aber ward mein Bruder, und zwar bei folgender Gelegenheit.

Der Hofrat Zezschwitz hatte einen wahren Engel von kleinem Töchterchen, mit Namen Sally, nach welcher auch die vor den Franzosen gerettete Puppe meiner Schwester benannt war. Bei ihrem zarten Alter aber – sie zählte erst drei Jahre – war sie von uns Knaben nicht eben sonderlich beachtet worden. Nun traf es sich, daß jener liebe väterliche Freund uns beide Brüder eines Abends in froher Laune gemeinschaftlich umfing, versichernd, einer von uns müsse sein Schwiegersohn werden, er habe es auch dem Fräulein schon gesagt, und sie sei einverstanden. Mein Vater sagte augenblicklich ja dazu, so solle es sein, und ich als der ältere solle mich zuerst entscheiden.

In großer Aufregung zerrte ich den Bruder ins dunkle Nebenzimmer, und indem ich ihm hier die Vorteile dieser Verbindung auseinandersetzte, bestürmte ich ihn mit dem Verlangen, daß er sich melden solle.

Ich sei aber doch der ältere, sagte der Kleine, ich müsse anfangen, und ich meinerseits versicherte, daß ich das auch wolle, aber nicht mit Sally, auf welche ich zu lange warten müsse. Darauf ließ ich mir die heiligste Verschwiegenheit geloben, und von der Dunkelheit begünstigt, entdeckte[142] ich meinem Bruder, daß ich schon eine andere liebe, nämlich Käthchen.

Eine Weile war er still, dann sagte er ganz trocken: »Die liebe ich aber auch.«

Das war entsetzlich! »Lieber Dicker!« sagte ich, »ich habe dir immer viel zu Gefallen getan, nun tu mir nur das und nimm die Sally. Dann kannst du machen, was du willst, du kannst auch mit meinen Sachen spielen und mit meinem Farbenkasten malen.«

Da reichte der Edle mir die Hand und sagte fest: »Ich will sie heiraten.«

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 140-143.
Lizenz:
Kategorien: