Die Erhebung

[166] Die politischen Stürme, welche, den Aufgang eines neuen Tages verheißend, damals schon die größere Hälfte des Vaterlandes durchtobten, hatten die Ballenstedter Gegend noch nicht berührt. Der Herzog war noch Rheinbundfürst, und seine Länder, eingeschlossen von der unnatürlichen Komposition, die man das Königreich Westfalen nannte, lagen noch mit diesem zu Napoleons Füßen. Es lastete daher ein schwerer Druck auf den Gemütern, wenn auch nicht der Schuljugend, doch aller Patrioten, an denen Anhalt nicht ärmer war als alle anderen deutsche Gaue, und mit Verlangen blickte man nach den Wetterwolken aus, die sich im Osten zusammenballten. Da fuhr die Nachricht von der Schlacht bei Leipzig wie ein Blitz durch die Schwüle und reinigte die Atmosphäre mit einem einzigen Schlage.

Die Herzogin Friederike hatte ihrer ganzen Individualität und Lage nach an der Schmach des deutschen Landes besonders schwer getragen. Saß doch ein König Jerome auf ihres erlauchten Vaters altem Stuhle, mit seinen Kreaturen eine Wunderwirtschaft treibend, die sie empörte, und war doch ihr Gemahl so wenig Herr in seinem Lande, daß er genötigt werden konnte, seine Fahne gegen deutsche Freiheit zu entfalten. Fürwahr, am schwersten waren unsere Fürsten von der Fremdherrschaft betroffen, und davon hatte wenigstens die Herzogin Friederike ein lebendiges Bewußtsein. Nun aber nach den Leipziger Tagen gab sich die hohe Frau dafür auch einer ganzen, vollen Freude hin, vielleicht der ungetrübtesten in ihrem freudearmen Leben.

Der Herzog Alexius schloß sich unverweilt den alliierten Mächten an zu Schutz und Trutz. In großer Eile war ein schönes freiwilliges Jägerkorps gebildet, die Landwehr aufgeboten und durch alle Ortschaften des Herzogtums ein Landsturm organisiert. Fröhlicher Waffenlärm erfüllte bald das ganze Land, alle Werkstätten erklangen von kriegerischen Liedern, und alle Kräfte regten sich im Dienste einer guten und gerechten Sache. Ein schöner, frischer Frühlingsmorgen war auch für Anhalt angebrochen.

Es handelte sich jedoch gegenwärtig nicht nur ums Dreinschlagen, sondern auch ums Heilen und um die Pflege zahlloser Verwundeter. Die sächsischen Spitäler waren überfüllt, und ihr Hilferuf drang namentlich ins Herz der Frauen, die in wohltätigen Vereinen zusammentrafen, Schmuck, Geld, Kleider, Wäsche und allen Fleiß der Hände mit Freuden opfernd. Binden und Bandagen, Bettwäsche und warme Decken[166] wurden in Fülle angefertigt, und wer nichts Besseres zu tun hatte, tat das Beste und zupfte Scharpie. Diese letztere Art von Handarbeit war epidemisch, in allen Häusern wuchsen Berge von Scharpie an, und besonders eifrig war der Hof. Da saß die ganze Gesellschaft, Kinder wie Erwachsene, um den runden Tisch, ein jeder sein Läppchen in den Fingern und vor sich einen großen Ameisenhaufen von gezupften Fäden. Dazu las Beckedorff die Zeitung oder sonst was vor, und zwischendurch ward Tee getrunken und mit allen Stimmen ein weithin schallendes franzosenfeindliches Lied gesungen.

Das alles war ganz in der Ordnung. Befremdlich aber schien es mir, wenn auch ein französisches Herz genötigt wurde, an solchem Aufschwung teilzunehmen. Die Herzogin hatte vor Jahren das Unglück gehabt, auf einer Reise durch die französische Schweiz den Fuß zu brechen, und war in dem Hause eines Landgeistlichen von dessen Tochter mit so hingebender Liebe gepflegt worden, daß sie dieselbe nicht wieder von sich lassen wollte. Sie hatte daher ihre Nobilitierung bewirkt und sie dann als Hofdame an den Hof gezogen.

Solange nun Napoleons Herrschaft in Deutschland andauerte, hatte das Fräulein vielleicht aus Zartgefühl, und weil ihr eigenes engeres Vaterland ja unter gleicher Knechtschaft seufzte, nichts weniger als französische Sympathien gezeigt; jetzt aber, nach der blutigen Niederlage ihrer Stammgenossen, mochte sie dennoch durch den triumphierenden Jubel der Gebieterin etwas verletzt sein, entzog sich wenigstens der Teilnahme an diesem Jubilieren, wo sie konnte. Nun sollte eines Abends ein ganz neuer patriotischer Hymnus gesungen werden, den die Herzogin besonders begünstigte, weil er in Ballenstedt gedichtet und komponiert war. Wir Kinder waren angewiesen, so recht aus voller Kehle mit allen Registern loszugehen, und umstanden bereits das Instrument – als die Hofdame vermißt ward. Sie ward gerufen, gesucht und fand sich endlich im Nebenzimmer, etwas verschnupft und hoch beteuernd, daß sie dieses Lied nicht singen könne.

Aber die Herzogin wollte keinen Widerspruch ertragen. Sie mochte der Meinung sein, daß, wenn Germanen sieben Jahre lang für französische Triumphe geläutet, kanoniert, illuminiert und bankettiert hätten, sich nun wohl auch einmal eine gallische Stimme in deutsche Freude mischen könne, und zwar um so mehr, als es doch nur eine helvetische und neutrale war. Das arme Mädchen wurde herbeigekrallt und mußte singen. Wenn ich nicht irre, so waren es zwölf lange Verse, die ihr abgemartert wurden. Aber damit schien denn auch die Sünde ihrer Nationalität vollständig abgebüßt, und die Betrübte ward umarmt, geküßt und auf das liebenswürdigste versöhnt.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 166-167.
Lizenz:
Kategorien: