Die Mahlzeit

[258] Daß Leute von so unregelmäßiger Tischzeit als mein Pastor und ich nicht mit den übrigen Hausgenossen zusammen speisen konnten, sieht jeder ein. Mit Ausnahme der Sonntage, wo die Hausarbeit ruhte und Familientafel stattfand, pflegten wir beiden Gartenknechte daher nachzuexerzieren. Zu dem Ende fanden wir die lange Wachstuchtafel im Studierzimmer nicht gerade gedeckt, wohl aber frisch abgewaschen und glänzend reinlich hergestellt. Tischtücher hielt Roller nicht für praktisch. Wenn sie auch alle Tage gebadet würden, pflegte er zu sagen, so blieben sie doch immer voll widerwärtiger Fasern, die sich nicht allein ans Brot hingen und zum Nachteil für die Därme mit eingeschlungen würden, sondern auch die Kleider ruinierten; und tagtäglich könne man es in allen Tischtuch- und Serviettenhäusern sehen, daß die Leute sich mit schwarzen Hosen setzten und mit weißmelierten wieder aufstünden.[258] Naß abgewaschenes Wachstuch sei dagegen so reinlich als ein abgewaschener Teller und so sehr der rechte Grund und Boden für alle Speisen, daß man diese im Notfall auch ohne Schüssel unmittelbar darauf aufstellen könne.

Auf diese reinliche Tafel wurden alle Gänge auf einmal aufgesetzt, teils, um den Appetit danach zu bemessen, teils, jede weitere Bedienung überflüssig zu machen. Dann aßen wir, die Mahlzeit nach Belieben von hinten oder vorn anfangend, alles hintereinander weg, die festen Speisen von besonderen Tellern, Gemüse und Brei aber gleich aus der Schüssel, und zwar vermittelst kleiner Brotschaufeln, die an die Gabel gesteckt und jedesmal mit verspeist wurden. Roller war vergnügt und guter Dinge, gab allerlei zum besten und wußte auch mich, namentlich durch paradoxe Behauptungen, nicht allein zum Mitsprechen, sondern auch zum Streiten anzuregen.

Er behauptete zum Beispiel, daß Unvernunft vernünftiger als Vernunft sei, Grobheit höflicher als Höflichkeit, daß Chausseen die Kommunikation hemmten und bloße Füße wohlanständiger als bloße Hände seien. Auch stritt sich's hübsch darüber, was besser sei, die Suppe mit den Schweden zuletzt oder mit den Sachsen vorweg oder endlich, nach Rollers Hausordnung, gar nicht zu essen. Endlich tischte mein Wirt beim Nüsseknacken wohl noch etliche Rätsel auf, deren er viele, und zwar alle nach ein und derselben Schablone, auszuhecken pflegte. Einiges der Art möge hier zur Probe folgen.

»Welcher Vogel nistet in der Kirche?« Ich riet natürlich auf Sperlinge und Tauben. Die Auflösung war aber: »Der Orga- oder Storchanist!« »Welches reißende Tier ist unentbehrlich bei jedem öffentlichen Gottesdienst?« Man hätte denken mögen, es sei der alte Adam, welcher gewissermaßen wie eine wilde Bestie durch die Predigt zu erlegen sei. Die richtige Antwort war aber: »Das Kanter- oder Panthertier!«

»In welche Stadt dürfen die Beine nicht mit hinein?« Hierin war ich ganz Unwissenheit, aber Roller schrie mich an: »Peterwardein! oder die Beine müssen draußen sein!«

Über solche Auflösungen konnte ich ungemessen lachen und ward darum gelobt. Andere, sagte mein Pastor, lachten zwar auch, nämlich Schulmeister und Kandidaten aus Höflichkeit, Superintendenten, Konsistorialräte und sonstige Honoratioren aus Ärger, die Gräfin Dohna aus Mitleid; ich aber aus dem ff, und das sei die schmeichelhafteste Tonart. Überhaupt schien mein guter Pastor nicht ganz unzufrieden mit mir zu sein. Er erwies mir viel Freundlichkeit, und gewiß hätte ich mich ihm gleich von Anfang zutraulicher angeschlossen, wenn seine Derbheit mich nicht allzuoft verletzt hätte. Ein Beispiel mag genügen.[259]

Nachdem wir unser erstes Mittagsessen sehr friedlich miteinander absolviert hatten, wurde mir geboten, in die Unterstube hinabzuschreien: »Nehmt die Speisung weg! – Aber vernehmlich!« fügte Roller hinzu, »denn nicht immer hören meine Schwestern leicht!«

Ich öffnete das Gitter und den Mund. Da mir indessen jener kategorische Satz gegen die alten Damen nicht zu ziemen schien, so übersetzte ich ihn ins Respektvollere und rief hinab: »Der Herr Pastor läßt bitten, das Essen abzutragen!« Doch hatte ich kaum ausgesprochen, als Roller mit der Faust auf den Tisch schlug, daß die Teller tanzten. »Heißt das Aufträge ausrichten«, polterte er mich an, »oder lügen?« Ich sah ihn erschrocken an. »Ja!« tobte er weiter, »gelogen hast du!«

Das hieß mir an die nackte Seele greifen. Mein unerfahrenes Gewissen sprach mich von jenem feigen Laster völlig frei, und ich war stolz auf meine Ehrlichkeit. Ich entgegnete daher mit einiger Empörung, ich löge nie. »O weh!« erwiderte Roller gedehnt, »zweimal in einem Atem gelogen: erstens durch falsche Bestellung und zweitens durch heuchlerisches Bekenntnis!« – »Und drittens«, fügte ich mit bebender Stimme hinzu, »habe ich in meinem Leben nie gelogen und lüge auch jetzt nicht.« Damit griff ich nach meiner Mütze und wollte das Zimmer verlassen. Aber Roller rief mir sein gebieterisches »Halt!« zu und hielt mir etwa folgende Predigt:

»Du bist empfindlich, mein Sohn«, begann er in ruhigem Tone, »weil ich die Pflicht der Freundschaft gegen dich übe und dir deine Fehler sage. Wenn du aber zu weichlich für ein wahres Wort bist, wie willst du denn jemals Unrecht ertragen? Und das muß jeder lernen, der ein Mann werden will. Nein, unterbrich mich nicht. Ich gab dir einen Auftrag. Den konntest du ablehnen; übernahmst du ihn aber, so mußtest du ihn wortgetreu ausrichten, durftest ihn nicht verbrämen und lackieren. Das ist Weiberwerk! Aber du wolltest dich niedlich machen, und darüber hast du Dinge gesagt, die meine Schwestern in das gerechteste Erstaunen setzen mußten. Sie sind nicht gewohnt, daß ich sie bitte, ihre Schuldigkeit zu tun, und ebensowenig pflegen sie das Essen wieder abzutragen, es sei denn, daß sie es versalzen oder verbrannt hätten. Oh, mein Lieber! Das Essen hatten wir verzehrt, und was übrigbleibt, Geschirre, Löffel, Gläser, heißt nicht Essen, sondern Speisung. Endlich sagtest du, du hättest nie gelogen. Das war das Schmerzlichste, denn damit machtest du den zum Lügner, welcher bezeugt hat, daß alle Menschen Lügner sind. Da merke auf, mi fili! und laß dir raten, daß du den selbstgerechten Mönch nicht mästest in deinem Herzen.«

Die gute Absicht der Verständigung versöhnte mich, und ich konnte allenfalls den Lügner tragen, der auf allen Menschen saß. »Ich kann[260] Ihren Schwestern keine Befehle geben«, sagte ich; »wenn ich aber nicht jeden Auftrag zu übernehmen brauche ...« – »Nein, beileibe nicht!« rief Roller in seiner jovialsten Weise, »wenn dir's nicht ansteht, sträube dich!«

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 258-261.
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