Der erste Roman

[283] Meine arme Mutter war in jener denkwürdigen Nacht noch schlimmer drangewesen. Zwar hatte sie keine Eulen gehabt, wohl aber Schmerzen; sie war an einem Herzübel erkrankt, von dem sie ab und zu ohne merkliche Veranlassung belästigt und umgeworfen wurde. Ans Weiterreisen war jetzt nicht zu denken, und unsere Wirte hätten Gelegenheit gehabt, ihre eigenmächtige Gastfreundschaft zu bereuen, wenn sie nicht die Menschenfreundlichkeit selbst gewesen wären.

Was mich anbelangt, so war ich mit dem verlängerten Aufenthalte wohl zufrieden, denn von Tag zu Tag gefiel es mir besser in Merseburg, und daß ich viel allein war, kränkte mich am wenigsten. Genoß ich doch zum erstenmal in meinem Leben die Süßigkeiten eines eigenen Zimmers, das mir, seitdem ich mich mit den Gespenstern abgefunden, immer heimischer und lieber wurde. Sagt doch das Sprichwort, eigener Herd sei Goldes wert; aber auch schon ein eigenes Zimmer ist was Großes, eine Welt, in welcher auch ein Knabe König sein und herrschen kann. Die Untertanen sind Träume und Gedanken von großer Schönheit, wenn man jung ist; ungehindert heißt man sie gehen und kommen, gestaltet und wandelt sie ganz nach Belieben; und überdem, so stört man niemand, wenn man sich ein Liedchen dazu pfeift, und macht man sich's bequem, etwa die Beine auf den Tisch gelegt, so darf es einem keiner verweisen.

In solcher überaus günstigen Lokalität saß ich nun stundenlang mit einem Büchlein, das die sorgliche Dame des Hauses mir gegen die Langeweile verordnet und verehrt hatte, indem sie es zugleich, um ihm mehr Wert zu geben, als eine Lieblingslektüre ihres Mannes bezeichnete. So brauchte ich mich seiner denn auch nicht zu schämen, obgleich es eigentlich ein Kinderschriftchen war. Es führte, wenn ich mich recht erinnere, den Titel: »Geschichte der heiligen Genoveva, für die Jugend bearbeitet von dem Verfasser der Ostereier«, und war meines Wissens der erste Roman, den ich zu lesen kriegte.

Romane werden für nachteilig gehalten, weil sie die Phantasie erhitzen, in welcher Beziehung selbst zwischen guten und schlechten ein Unterschied nicht stattfindet, und auch der meinige, ein recht guter,[284] trug in der Einsamkeit des eigenen Zimmers dieselbe Frucht. Die mich umgebende Wirklichkeit nahm ein romantisches Gewand an, indem ich unwillkürlich die Züge des Gelesenen in sie hineintrug. Das alte Schloß, in welchem ich herbergte, wurde mir zur Burg von Simmern, Frau von Schönberg zur Gräfin Siegfried und die kleine Auguste mit ihren langen Goldlocken und feinen, geistvollen Gesichtszügen zur kleinen, von frommen Eltern in gottesfürchtiger Häuslichkeit erzogenen Genoveva. Umgeben von dem Strahlenkranz der letzteren, stahl sich das allerliebste Mädchen mir ins Herz, und willig hätte ich Taten getan und Blut verspritzt, wenn ich das liebliche Kind dadurch vor allen Golos, Felsenlöchern und Hirschkühen hätte schützen können, die möglicherweise ihrer Zukunft drohten. Das war aber keineswegs der ganze Vorteil, den ich aus meiner Lektüre und gehobenen Stimmung zog.

Ich würde mir unrecht tun, wollt' ich behaupten, daß ich meine Zeit nur mit Zimmerhocken zugebracht hätte. Ich trieb mich vielmehr sehr umher, allein und mit den Mädchen, und alles, was ich sah, gefiel mir. Zwar glaube ich kaum, daß Merseburg mit seinen nächsten, überaus nüchternen Umgebungen damals für gewöhnliche Reisende viel Anziehendes haben konnte; ich aber sah es im Zauberlichte der Romantik, und das war der wesentlichste Vorteil, den ich von meinem Romane hatte. Das alte Schloß zwar und die Kirche hatten jedenfalls Interesse für jedermann, aber die kahlen Weidenufer der Saale, welche zur Sommerszeit hier nur ein Bach ist, die kleine, baufällige Brücke, über die wir täglich spazierten, die öde Windmühle und der Galgenberg, von welchen Höhen aus die spitzgetürmte Stadt betrachtet wurde, das alles und mehr dergleichen mochte an sich selber gleichgültig genug sein; für mich aber bildeten alle diese Punkte die Szenerie zu dem schwärmerischen Aufschwung, den ich genommen, und dem damit verbundenen Gefühle eines ungewöhnlichen inneren Wohlseins.

Ich hatte bis jetzt, und keineswegs als Blinder, in einem der schönsten Teile des Elbtales gelebt und mich doch nie versucht gefühlt, nach der Natur zu zeichnen, weil ich dachte, ich hätte dazu keine Fähigkeit; jetzt aber, begeistert von Merseburgs Gänseweiden, sollte ich erkennen, daß der Mensch bei weitem mehr zu leisten vermag, als er gewöhnlich denkt, sobald ihm nur die rechte Lust ankommt. Die Lust ist das Talent.

In dieser Beziehung erzählte mir Roller einst die folgende Episode aus seinem Leben. Bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr hatte er nie gemalt, wie er sich ausdrückte, weil er dachte, er könne es nicht. Da schenkte ihm jemand ganz zufällig einen Rotstift, um Korrekturen anzustreichen.[285] Roller hatte noch niemals einen Rotstift besessen; er war neugierig auf seine Wirkung und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn noch vor Schlafengehen mit einem scharfen Messer anzuschneiden und zu probieren.

Lichtenberg hat gesagt, es mache jedermann Vergnügen, Stanniol mit der Schere zu schneiden. Es ist der weiche Schnitt, der so vergnügt; aber ebenso vergnügt auch der fette Strich des bunten Rötels. Dies war es auch, was Roller reizte, und da es gerade nichts zu korrigieren gab, so zog er ziemlich gedankenlos die Umrisse einer Aurikel nach, die vor ihm im Wasserglase blühte. Es war ihm anfänglich nur um die Lust des fetten Striches zu tun; bald aber wurde er warm bei seiner Arbeit, denn zu seiner eigenen Überraschung wollte das Bild fast ähnlich werden, und mit steigendem Eifer schraffierte er drauflos, bis die Aurikel samt dem Glase wie ein Wunder auf dem umgedrehten Briefkuvert stand, das er dazu benutzt hatte. In der glücklichsten Stimmung schickte sich Roller nun zum Schlafengehen an, aber ehe er das Licht löschte, trieb es ihn noch einmal aus der Kammer, und noch einmal würdigte er die Zeichnung seines ungeteilten Beifalls. Am anderen Morgen, als er aus dem Bette fuhr, war die Aurikel sein erster Griff, und so gelungen fand er sie, daß, wenn er nicht sein eigener Zeuge gewesen wäre – einem anderen würde er's gar nicht geglaubt haben, daß er das selbst gemacht hätte. »Von da an konnte ich malen«, sagte mein alter Freund.

Ähnliche Überraschungen erlebte ich nun auch an mir. Wie jenen das Handwerkszeug, so hatte mich das Objekt gereizt; ich wagte mich dran und übertraf meine Erwartungen. Das erste war die Saalbrücke, die schon mit einigen Strichen dastand, weil die gefällige Phantasie alle Auslassungen supplierte. Ich zeichnete nun viel im Freien, und wenn ich dann, in meine Bodenkammer zurückgekehrt, die Mappe aufschlug, glaubte ich die Sachen selbst zu sehen, die Brücke, das Schloß, die Mühle, den alten Turm im Garten und anderes. Es war eine glückselige Zeit, da mir das alles gelang und ich nicht müde wurde, meine eigenen Aurikeln zu betrachten. Kleinmut und Mißlingen lernte ich erst später kennen, denn Anfänger bedürfen des Mutes, um fortzuschreiten, und Fortgeschrittene der Demut, um nicht zurückzugehen.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 283-286.
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