Das Aktenstück

[323] Während meines jüngsten Aufenthaltes in Ballenstedt hatte Beckedorff sich wiederholentlich und warnend gegen die politische Verwirrung altdeutscher Jugend ausgesprochen, ohne daß es ihm gelungen wäre, mich meinen Sympathien abwendig zu machen. Ich verharrte in dem anmaßlichen Aufschwung, den ich gewonnen, und trieb vor meinem Abgang von Bernburg noch eine letzte demagogische Blüte, die, wenn ich die Schule nicht gleich darauf von selbst verlassen hätte, ganz dazu angetan gewesen wäre, mir eine unfreiwillige Ausweisung zu bereiten.

Ich hatte eine deutsche Arbeit eingereicht, zu welcher, wie billig, das mich erfüllende Deutschtum die Ideen hergeben mußte, während ich den Stoff ganz schicklich von der Dresdner Rüstkammer entlieh. Indem ich nun, einen Besuch dieser großartigen Sammlung fingierend, die meiner Meinung nach interessantesten Objekte aufzählte, die sie enthält, nahm ich von so zahlreichen Dokumenten der Vorzeit Veranlassung zu allerlei gewagten Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart in deutschen Landen, wobei mein Räsonnement natürlich nur den Vorstellungen entsprechen konnte, die ich von beiden hatte.[323] Im Mittelalter sah ich aber eitel Freiheit, Frömmigkeit und Kraft, in der Jetztzeit nur Gottlosigkeit, Erbärmlichkeit und Knechtschaft, und – wie es einem dann ergehen kann, wenn man sich ganz allein seinem Tintenfaß gegenüberfindet – je tiefer ich in meinen Gegenstand eindrang, je rücksichtsloser schrieb ich. Unter anderem erinnere ich mich, daß ich so weit gegangen war, zu sagen, daß, während man in jenen tüchtigen Zeiten schon zehnjährige Knaben in Eisen gehüllt und in Kampfspielen gehärtet habe – wie die zahlreichen noch vorhandenen Kinderharnische bekundeten –, man heutzutage der Jugend die Turnplätze verweigere, um möglichst marklose Weichlinge zu erziehen. Noch mehr dergleichen polizeiwidrige Äußerungen mochten sich in meiner Arbeit finden, doch hatte ich weiter keine Absicht, als mich zu expektorieren, und zwar vorzüglich gegen meinen Klassenlehrer, welchem die Korrektur der deutschen Arbeiten zustand. Dieser Lehrer, Professor Sachse, ein ansehnlicher und gelehrter Mann, war sonst beliebt genug gewesen; namentlich bewunderten wir Schüler seine kräftige und schwungvolle Eloquenz, und wenn er von Vaterlandsliebe und männlicher Tugend der Alten sprach, konnte er immer sicher sein, die Klasse zum Enthusiasmus fortzureißen. Neuerdings war er uns jedoch verdächtig geworden, weil er sich bei verschiedenen Gelegenheiten unliebsame Bemerkungen über das Turnwesen erlaubt und Äußerungen getan hatte, die einer Rüge nicht ganz unwert schienen.

Als nun die Zurückgabe der deutschen Aufsätze erfolgte und meine Mitschüler die ihrigen, einer nach dem anderen, mit kurzen Kritiken zurückerhalten hatten, ergriff der Professor das letzte Heft; es war das meinige. Es sei noch eine Arbeit übrig, sagte er, ein Aufsatz, dessen eigentümliche Färbung ausführlichere Besprechung fordere. Dazu werde die übliche Zeit nicht ausreichen und die nächstfolgende Stunde daher zu Hilfe genommen werden müssen.

Ein Freudenschein lief über die Gesichter, denn die nächste Stunde war die letzte in der Woche und deren Arbeit somit zu Ende. Zudem konnte aus der Haltung des Lehrers auf ein rhetorisches Ungewitter geschlossen werden, das für die Unbeteiligten Genuß versprach. Die meisten setzten sich bequem zurecht; ich aber machte mich stark im Geist.

Inzwischen begann der Professor mit Lob, das sich auf die Form und den angewandten Fleiß bezog; dann las er den ganzen langen Aufsatz ohne weitere Bemerkung, doch mit schärfster Betonung aller tendenziösen Stellen vor. Je weiter er kam, je aufrichtigere Zustimmung sprach sich in den Mienen der Schüler aus; einige von ihnen nickten mir beifällig zu, die Nächstsitzenden drückten mir verstohlen die Hand.[324]

Als aber die Vorlesung beendet war, entlud sich ein fürchterliches Ungewitter. Sachse richtete sich hoch auf wie eine Rolandssäule und, gegen mich gewendet, begann er mit mächtiger Stimme: »Wissen Sie, was Sie getan haben, junger Mensch? Ein Aktenstück haben Sie geliefert, das Ihnen den Platz in dieser Schule kosten kann!«

Nachdem dieser Pfropf heraus war, überflutete mich ein Strom der erbarmungslosesten Kritik, welche aus der mächtigen Brust des Redners anfänglich in stoßweisen Eruptionen hervorbrach gleich bahnbrechenden Kanonensalven, dann aber in geschlossener Rede, jeden Widerstand vernichtend, weiterströmte. So hätte Cicero gegen den Erzverräter Catilina reden können, wenn er gewollt hätte; ich aber war durch die Zeichen des Beifalls meiner Mitschüler viel zu berauscht und durch die Heftigkeit des Angriffs zu beleidigt, um mein Unrecht einzusehen. Während der ganzen Kanonade blickte ich dem feindlichen Konstabler fest ins Auge, bis ihm endlich die Munition ausging. Er schloß mit der Bemerkung, daß er sich veranlaßt sehen könne, einen Gebrauch von meiner Arbeit zu machen, für dessen Folgen er nicht gut sein möge, sie mir daher auch nicht zurückgeben würde. Darauf verließ er die Klasse hocherhobenen Hauptes.

Jetzt ward der Beifall meiner Mitturner überlaut, sie umdrängten und umhalsten mich, als hätte ich ein Stückchen Vaterland gerettet, und hocherhobenen Hauptes ging auch ich nach Hause, von zahlreichen Genossen begleitet.

Als ich jedoch das Ding beschlafen hatte, wurde mir doch der Gedanke an die möglichen Folgen ungemütlich. Es schien mir wenig wünschenswert, als relegierter Schüler vor meinen Eltern zu erscheinen, und ich entschloß mich daher, meinen demnächstigen freiwilligen Abgang ohne Verzug selbst anzuzeigen. Zuerst ging ich zum Klassenlehrer. Das Herz schlug mir, als ich an seine Tür klopfte; aber wider Erwarten empfing er mich aufs beste und nötigte mich zum Sitzen. Ich sei gekommen, sagte ich, mich vorläufig zu verabschieden, da ich die Schule in einigen Tagen verlassen würde. Sachse wollte mich beruhigen. Jener Arbeit wegen, sagte er, brauche ich nicht abzugehen. Zwar habe es in seiner Stellung gelegen, einmal ernstlich gegen eine Richtung aufzutreten, die von oben perhorresziert werde; ich sei indes bei ihm in Freundeshänden, und wie wenig er daran denke, mir zu schaden, möge ich daraus erkennen, daß er das Corpus delicti bereits verbrannt habe. Er redete mir nun zu, mich zu beruhigen und zu bleiben; da er indes hörte, daß ich die Schule infolge eines längst gefaßten Entschlusses meines Vaters zu verlassen habe, um mich dem Studium der Malerei zu widmen, gab er sich zufrieden. Er sprach sehr anerkennend von[325] dem herrlichen Beruf der Künstler, und, schließlich mich umarmend, entließ er mich mit dem begeisternden Zuruf: »Fliege, junger Adler! Nur auf den Höhen wohnt die Freiheit!«

Mit warmem Herzen verließ ich den verdienten Mann, welcher übrigens, weit entfernt, mein hirnverbranntes Opus zu verbrennen, es vielmehr für sich behalten hatte, um es in Freundeskreisen vorzulesen, sich mit anderen der Gesinnung und des Trotzes freuend, die er in der Klasse schonungslos verdammte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 323-326.
Lizenz:
Kategorien: