8 [19] Brief aus Paris an Paul Marc

19.7.1903


... Ich weiß nicht, was in diesem Brief stehen wird; was ich Dir schreiben soll in diesen Tagen, die nun definitiv die neue Lebensordnung für Dich und damit für uns beide einleiten! Denn ich bin leider überzeugt, daß unsere Wege von nun ab sich im besten Falle zuweilen oder auch häufig kreuzen werden, aber nie mehr nebeneinanderlaufen werden, wie sie es doch bisher getan, – einige Fußwege abgerechnet, die der eine und der andere einmal allein gegangen ist. Doch wir wissen ja nicht, was wir im Leben noch anfangen werden. Es hat nicht viel Sinn, im voraus Reden zu halten. ›Regen wir uns ab‹, wie Lauer zu sagen pflegt, wenn wir uns über irgendeine Sache zu sehr ereifern. Ich gebe nur als Devise aus (die bei mir der Ausdruck eines wirklichen Bedürfnisses ist): uns im Leben so viel als möglich aufzusuchen. Im übrigen weißt Du, daß Dich und Helene meine aufrichtigsten Wünsche jederzeit begleiten. Die Oettinger Episode [P.M. hatte mit der Katalogisierung der Bibliothek auf Schloß Oettingen begonnen, d. Hrsg.] nehme ich schon als Vorzeichen einer tapferen und munteren Laufbahn. Wenn Du einmal nach Paris kommst, werde ich sehr trachten, auch hier zu sein. Paris solltest Du durch mich kennenlernen. Hier kann ich wirklich den Führer machen. Ich suche nach allen Winkeln und Mitteln, um mir eine übersichtliche und treffende Idee von Paris zu machen. Paris lebt unter ganz eigenartigen, seltenen Bedingungen. Ganz Frankreich scheint ein ungeheurer Garten, der das große, einzige Kind Paris ernährt; ohne Murren; ganz selbstverständlich. Und Paris nimmt alles an, was man ihm bringt, und verbraucht es. Das Geld rollt mit einer unglaublichen Schnelligkeit. Man gibt es aus, (für deutsche Begriffe in maßloser, unsinniger Weise). Man ist unerschöpflich in seinem Empfindungsreichtum.[19] Man genießt mit Lust ohne viel Kritik und ohne wahren deutschen Ernst. Ein Deutscher (sentimentaler, schwerfälliger, kritischer Deutscher) wird hier überhaupt nicht begriffen. Was ein guter, deutscher Typus ist, lerne ich erst hier, aus Distanz und Gegensatz kennen. Etwas anderes ist es mit dem Amerikanismus, der Paris überflutet seit drei Jahren (4000 Millionäre sollen dieses Jahr hier leben). Amerikanisch ist hier Trumpf. Kunst und Theatergeschmack, Hotels, ja ganze Quartiers sind amerikanisiert. In meinen Augen ist es höchst traurig, aber man muß gestehen, daß die Pariser es wunderbar verstanden haben, etwas daraus zu machen. Sie verdauen es mit Grazie und bewunderswertem Geschick. – Im Übrigen: für moderne Zeichner und Maler, Illustratoren etc. ist Paris überwältigend groß und interessant. Es ist hier alles publik. Man freut sich, gesehen zu werden. ›Es ist eine Lust zu leben‹ ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 19-20.
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