10 [20] Brief an Marie Schnür

Pasing, 20.10.1905


Liebes Fräulein, heute verlebe ich einen stillen Nachmittag in Pasing[20] und benutze die ruhigen Stunden, um Ihnen, liebes Fräulein, mit ein paar Zeilen für Ihren herzlichen, hübschen Brief zu danken. Wie gut und offen Sie zu erzählen verstehen! Ich stelle mir dabei noch Ihre Augen vor, dann habe ich meine ganze gute Freundin telle qu'elle est. Sie erlauben, daß ich eine Zigarre rauche, während ich an Sie schreibe, – dann haben Sie auch mich, wie ich bin, – wenigstens wie sie mich kennen. Ich glaube, Sie haben ganz die rechte Weise gefunden, das Paris zu genießen, soweit sich ›allein‹ genießen läßt; (ich kann's nicht; habe es nie gekonnt. Darin sind Sie der selbständigere Charakter von uns beiden.) ... Wir besuchten dann einen jungen Kollegen, M. Niestlé; es ist ein ganz weltscheuer, blutjunger französischer Tierzeichner von einer so genialen Melancholie, daß es einen krank macht, wenn man seine Sachen sieht. Er erinnert technisch ganz an die Japaner, nur noch ergreifender, noch innerlicher, und was das Wunderbare ist: noch genauer! Von einer zeichnerischen Vertiefung, die an's Unglaubliche streift. Jetzt hat er neben ungezählten Tierstudien einen großen Entwurf: einen zweimeterlangen Rah men (Papier), auf dem er hundert Stare (vorbeifliegender Schwarm) malt. Man glaubt, das Zwitschern und Flügelrauschen zu hören. Und keiner gleicht dem anderen! Jedes Tier hat seinen eigenen Ausdruck. Niestlé ist sehr arm und fast unbekannt; eines von jenen düsteren, einseitigen Genies, die meistens vor Melancholie früh sterben, da ihnen die Natur nur einen ganz schwachen, kranken Körper ›mitgegeben‹ (dies Wort bezeichnet ganz richtig solche ›Seelen mit einem Körper‹). Vom Frühjahr bis in den August hinein konnte er nichts arbeiten. Es ist sicherlich wie bei Jakobsen. C'est un défaut de son corps qui est l'origine de son art ... Nachdem ich von dem genialen Niestlé erzählt habe ... schäme ich mich fast, von mir selbst zu erzählen. Es erscheint einem unsre Malerei so entsetzlich brutal und stimmungslos, diesen Sachen gegenüber! Ich male viel und große Sachen; ... hauptsächlich Porträts, die ich ganz ehrlich und tapfer ›fertig‹ malen will. Bis jetzt ist freilich noch viel Unfertiges. Das große liegende am meisten; aber darin steckt meine Seele am tiefsten. Und wenn ich es sechsmal malen muß: einmal muß es das werden, was ich mir träume? Im Entwurf steht es schon ganz groß da. Aber der fertige Vortrag eines so großen und dunklen Bildes ist so unsäglich schwer. Ich halte so sehr viel auf den rein technischen Vortrag ... Nebenbei arbeite ich mit Sorgfalt und Stimmung an einigen Ge dichtillustrationen, ... – Ich habe mir durch einige antiquarische Geschäfte ein ganz hübsches Geld verdient, Sie lachen! Aber ich bin froh. Ich bin so glücklich, auf diese Art um das Kitschmalen herumzukommen. Heute gab mir Herr Lämmle (ein pikfeiner Antiquar ...) gelegentlich eines Besuches bei mir den Auftrag, ihn zu malen, wofür ich die entzückendste Holzfigur bekomme, die ich in meinem Leben gesehen. Eine nackte Kinderfigur, erste Hälfte des 16. Jhdt. – ein Dürer[21] in Plastik übersetzt. Der Auftrag ist mir natürlich sehr willkommen, schon um der eigentlichen Konsequenzen halber. Ihre 2 lithographischen Blätter habe ich ... verkauft ... Soll ich Ihnen das Geld schicken? Sie brauchen keine Furcht zu haben, daß ich es in Zigaretten anlege. – Letzthin war ich in Dachau und machte mit Hölzel und einigen aus seiner Schule einen großen ›theoretischen Spaziergang.‹ Ein ganz netter und auch geistvoller Mann, aber nichts für mich ... Schreiben Sie auch einmal wieder Ihrem


Franz Marc.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 20-22.
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