106 [93] Brief an Wassily Kandinsky

13.3.1914


Lieber Kandinsky, traurig bin ich schon – aber wie könnte ich böse sein? Davon ist nicht die Rede. Böse werden kann man nur über Entstellung und Verschleierung von Tatsachen, niemals aber über die Tatsachen selbst. Ich weiß, daß Sie völlig ehrlich über das Für und Gegen nachgedacht haben, vielleicht auch gründlicher als ich über[93] die positiven Grundlagen eines 2. Buches [Aufzeichnungen und Schriften Nr. 21, d. Hrsg.], die mehr Abgründe darstellen als Grundlagen. Mir selbst ist allerdings bis heute die Lust oder besser gesagt der Drang, meine gegenwärtige Arbeitslust durch eine schriftliche Herausgabe zu steigern und zu klären, nicht vergangen; vielleicht versuche ich etwas auf eigene Faust. Ich habe das bestimmte Gefühl, daß gerade heute von uns etwas gesagt werden müßte, gerade weil das Material fehlt. Wenn es einmal nicht mehr fehlen wird, werden andere und mit Recht das Material zeigen, die Schöpferischen haben mit dieser Arbeit, die unsre Zeit jetzt so bereitwillig übernimmt (im Gegensatz zu früher), nichts zu tun. Das ist mein Gefühl in dieser Sache. Ob es uns gelingt, ist ja eine andere Frage, ›gelungen wäre‹, muß ich eigentlich sagen, denn ob es mir allein gelingt, scheint mir gewiß sehr zweifelhaft. Die Idee der Jahrbücher [s. Personenverzeichnis: Mitrinovič, D., d. Hrsg.] ist mir sehr unklar, ich kann darüber gar nichts sagen. Zunächst habe ich ein Gefühl dagegen, da ich immer denke, daß man, um Kraft zu sammeln, sich auf einen steilen Felsen stellen muß, nicht auf verschiedene Punkte einer Ebene, je konzentrierter, desto besser. Ich meine, für schöpferische Arbeiter, die wir sein wollen und sollen, gibt es nur die Wahl, von einem Punkt aus zu wirken, das Dreieck auf die Spitze gestellt, nicht so: ∆

Es ist merkwürdig, wie wir jetzt divergieren, – ich glaube wohl alle um dasselbe Zentrum, aber jeder mit einer anderen Schwingungskraft und anderen Kurven, die sich nicht treffen, trotz des gemeinsamen Willens ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 93-94.
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