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[134] 30.III.15


Liebste, nun liegen Deine 3 langen Briefe über die Aphorismen vor mir und machen mich sehr glücklich. Ich sag dies gleich und bitte Dich, Dich immer an diesen Satz zu erinnern, auch wenn Du vielleicht im folgenden und später oft vieles zu lesen meinst, dem Du widersprechen willst und mußt und das Dir angst macht, daß ich Dich vielleicht gar nicht verstanden hätte. Ich verstehe Dich und was Du willst und die Wahrheit dessen, was Du forderst, vollkommen und werde immer wieder auf diesen Kern und Urgrund dringen, auch wenn ich auf Umwegen gehe. Die Umwege sind bei produktiven Naturen sicherlich oft die einzig mögliche Verbindung mit dem Ziel; einer, der nur lebt und in Reinheit wie ein Eremit im Leben steht, lebt vertrauter mit dem Gott und Urgrund des Seins (z.B. auch Ihr Frauen und Mütter) als ein produzierender (d.h. ›sich quälender‹) Geist. Deswegen will ich doch zur Reinheit und bin mir bewußt, daß viel Unreines in meinem ganzen bisherigen Werk und z.B. auch in den Aphorismen ist. In den letzteren vor allem. In einem tust Du mir Unrecht, wenn ich auch überzeugt bin, daß ich direkt Anlaß dazu gegeben habe: daß Du denkst, ich rede von Kunst; ich habe bei meinem Reden nur die Form, d.h. die Mittel der Kunst im Auge; ob es nun eine ›Sünde wider den heiligen Geist‹ ist, über die Form nachzudenken, – das ist so schwer mit ja oder nein zu beantworten. So ohne[134] weiteres wird mich niemand überzeugen, daß z.B. Mantegna oder Bellini (erinnere Dich an seine Londoner Bilder!), Meister Bertram oder der Erbauer des Straßburger Doms oder Delacroix nicht stündlich in ihrem Leben um die Form gebangt und gerungen haben. Daß sie Künstler waren und von Kunst wußten, war ihre Seligkeit und ist auch die meine; aber die Form war ihr tägliches Studium und ihre Qual. Die schenkt der liebe Gott uns nicht. Musikalische Schöpfungen will ich nicht hereinbeziehen; sie bleiben mir in ihren reinen Gebilden (wie Bach oder die 3 letzten Symphonien Beethovens oder die katholischen Hymnen der frühen Italiener) ein Mysterium, über dessen formales Entstehen ich mir keine Gedanken zu machen getraue (ich will es auch gar nicht), – während mir sentimentale oder äußerliche (d.h. formal allzu durchsichtige) Musik oder auch reine Musik sentimental gespielt gar keine Freude macht, schon aus dem Grunde, weil ich hier vom Formalen gar nichts verstehe und mir daher gewiße Freuden und Befriedigungen versagt sind, die z.B. ein Klee doch noch mit Recht aufnimmt. Was K[aminsky] über Beethoven sagt, ist ja wörtlich das, was ich in den letzten Jahren so oft gesagt habe; erinnerst Du Dich noch, wie ich einmal dringend nach Mozart verlangt habe, (Du weintest damals darüber, August war dabei), weil Mozart sich reiner, unpersönlicher ausdrückt. Das tut er, soweit ich ihn kenne, freilich nicht immer; vieles an ihm ist spielerisches Rokoko und zwar gerade deswegen unrein, weil es so unglaublich kunstvoll und geistreich ist und nicht naiv wie manchmal Rameau, der einem eben stille Freude macht wie ein Rokokozierat, sehr reines Kunstgewerbe. Das gibt es freilich heute nicht außer vielleicht in Picasso und manchen Légers, überhaupt den Franzosen! Heute steht jede Kunstäußerung vor dem Entweder – Oder. Und darum hast Du so recht mit Deiner Sehnsucht und Forderung, zum zeitlosen Urklang zurückzusteigen. Kam[insky] sagt: wenn ich Chinese bin, sage ich es Chinesisch, wenn ich 1915 lebe, – 1915. Das ist so wahr, aber leichter gesagt als getan, nämlich das ›1915 leben‹! Dazu muß man vielleicht die Aphorismen und noch bessere, gründlichere durchdenken und geistig viel umfassen; sonst lebt man irgendwann und wo und hängt in der Luft. Man darf das heilig anvertraute biblische Pfund nicht nur wie ein frohes Evangelium in der Tasche tragen (wie es momentan Du und vielleicht K[aminsky] tut und mit Euch viele reine Künstlerseelen, die nie zum Schaffen kommen, weil sie vielleicht zu rein und keusch sind), sondern mit dem Pfund handeln nach der Bibel. Um eins bet ich freilich: daß der ›Betrieb‹ meine Seele nie mehr einfängt. Nur das nicht mehr; und ich bin so froh, daß Du mir dabei helfen willst. Der Gedanke an ihn ist mir gräßlich. Ich freu mich sehr auf den Verkehr mit K[aminsky]. Wie schmerzlich, auch für Dich, daß er jetzt fort muß. Schick ihm öfters was; er wird es sicher sehr gut brauchen können, mehr als ich. Auch wenn es ein bissel[135] was kostet; das macht nichts. Seine Idee, daß die Nächstenliebe die einzige geheime Religion von heute ist, – das ist das einzige, was von Deinen und seinen Worten nicht in meine Seele eingeht; außer man faßt den Begriff der Hingabe und Selbstverleugnung so weit, daß es schließlich ein Streit um Worte wird. Gerade reine Kunst denkt sowenig an die ›andern‹, hat sowenig den ›Zweck, die Menschen zu einigen‹, wie Tolstoi sagt, verfolgt überhaupt keine Zwecke, sondern ist einfach sinnbildlicher Schöpfungsakt, stolz und ganz ›für sich‹! Ich schrieb Dir, glaub ich, schon einmal darüber; verlier Dich nicht ganz in das Riesenmeer Tolstoischer Gedanken; ich verachte sie gar nicht, ich freu mich, sie jetzt bald zu lesen, nach jahrelanger Pause; aber lies Du jetzt einmal – Nietzsche. Jenseits von Bös und Gut Genealogie der Moral; der Antichrist und Morgenröte (bei Paul). Ich will Dich ja nicht quälen. Du kannst es auch später einmal tun, wenn Du jetzt nicht in Stimmung bist. Dieser kurze Brief soll auch keine erschöpfende Antwort sein auf Deine langen Briefe, sondern zunächst und vor allem meine freudige Zustimmung zu dem künftigen Leben sein, das Du Dir für uns beide und mein Schaffen erträumst; Deine Briefe waren wirklich wie ein Weckruf; und dann kurze verstreute Gedanken, die mir zunächst beim Lesen gekommen sind. Nächstens mehr, mein liebes tapferes Weib.

Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 134-136.
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