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[152] 21.VII.15


Liebste, ich muß jetzt immer an Ried denken, an dies liebe, unsagbar treue reine Häuschen; ich kann es gar nicht begreifen, daß man es einmal wieder so gut haben wird, an solchem Orte und mit Dir ohne[152] fremden Zwang und nur seiner eigenen Menschlichkeit leben zu dürfen. Ich empfand in den kurzen Urlaubstagen alles so tief und entscheidend, – tiefer, als ich dem Ausdruck geben konnte und auch mochte; denn diese Empfindung konnten Worte nur matter machen und nie ganz aussagen. München interessierte mich so wenig; es rührte mich etwas in seiner Trauer; aber im Grunde war dort alles wie in einem Roman, der mich nur halb angeht und der uns nur während der Lektüre ein bißchen bannt. (Bei Wolfskehl fühlte ich etwas Liebe, vor allem als ich an seinem Krankenbett saß). Und ganz Liebe fühlte und fühle ich für Dich, mein gutes liebes Lieb. Ich weiß, ich war so schweigsam, – Du frugst mich so oft; ich konnte Dir gar nicht richtig antworten und sagen; – später fiel mir's auf die Seele, Du könntest am Ende traurig sein; leb nur fröhlich in Gedanken an mich und an unser kommendes Leben. Das Leben hier berührt mich überhaupt nicht mehr; es ist, als wäre es schon nicht mehr wirklich und gegen wärtig; ein rein formalistisches Dasein, dem man gehorcht. ›Der gute Soldat wider Willen‹ wäre kein schlechtes Thema für einen, der philosophisch genug wäre, die ganze Tragik und Merkwürdigkeit dieses gegenwärtigen Zustandes zu begreifen. Alle begreifen ihn immer nur in dem Sinne, daß der Deutsche sein Land und seine Arbeit verteidigt, seine Mission fühlt, aber den Frieden im Herzen trägt, – keiner faßt das Thema so, daß man den Fluch urältester Gewissensverfehlung heute über sich ergehen lassen muß und daß man in diesem Kriege persönlich und als Volk ›sühnt‹. – Wir sind wirklich alle schuld an diesem Krieg; – das ist auch der eigentliche Grund, warum es uns so auf die Nerven geht, wenn wir jemand sehen, der so tut, als ginge ihn der Krieg, auch als Ereignis, gar nichts an. Nicht weil er dem bedrängten Vaterland nicht zu Hilfe eilt, sondern weil er sich einer Sühne entzieht; das ›verstockte Herz‹ des Evangeliums. Ich lese hier Gogol: Die toten Seelen I. Ich glaube, ich habe Band II auch zu Hause. Wenn er da ist, sende ihn mir gelegentlich. Wenn nicht, laß es; dann bestelle ich ihn mir mit einigen anderen Reclambändchen. Ich las Tolstois Macht der Finsternis; es ist wirklich erschütternd; aber nur aus der russischen Seele heraus ganz zu verstehen. Das Ganze mit deutschen Typen gespielt würde gänzlich unwahr wirken. Ich hab es bei Reinhardt gesehen; es ist aber zu lang her, um die Aufführung aus der Erinnerung nachzuprüfen. Damals gefiel sie mir; aber wahrscheinlich war sie zu raffiniert und nicht im Geiste Tolstois. Die Übersetzung ist ganz miserabel, meist direkt dumm. Nimm Dir als Winterlektüre jedenfalls die Brüder Karamasoff vor; ich möchte, daß Du sie einmal liest. Was macht der gute Kaminsky? Erzähl mir nur weiter von ihm, was er sagt und denkt und tut. ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 152-153.
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