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[170] 20.XI 15.


Liebste, ich lese mit immer wachsendem Interesse und Verblüffung Emanuel Quint, – Du hast recht: wir hatten einen andern Gerhart Hauptmann in unserer Vorstellung, als er in der Tat ist. Ich hatte so sehr Wortkunst wie in der versunkenen Glocke und ›Literatur‹ erwartet,[170] aber niemals diese beispiellose Sachlichkeit und diese Seelenkennerschaft, die so wesensfremd aller Theaterkennerschaft ist, die man ihm bisher zutraute, – ich wenigstens in voller Verkennung dieses Geistes. Ich stecke natürlich noch in den Anfangskapiteln dieses Buches, und doch glaube ich es schon ganz zu kennen, weil es so ganz unliterarisch d.h. ohne Laune und ohne Willkür, sondern gänzlich episch, logisch notwenig und ohne Wanken geschrieben ist. Eine unglaubliche Lektüre für einen Offizier im Feld! Die Doppelteilung meines Wesens wird durch sie natürlich grotesk gesteigert, aber das schadet nichts; es tut wohl. Ich hatte heut mit einem katholischen Feldgeistlichen eine lange Sache zu bereden, – ich mußte immer ein heimliches Lachen unterdrücken, – alles was wir sprachen, war so unendlich komisch und unmöglich für mich. Wie kann man nur so leben! In welche Masken und Verstellungen hat sich der menschliche Sinn verstiegen! Ich erlebe jedenfalls in dem Buche das Seltene, daß es mich wirklich interessiert und ich jede Zeile lesen kann; alles andere, was ich in letzter Zeit in die Hände bekam, z.B. auch Nietzsche, Novalis, Tolstoi, Strindberg u.s.w.) fesselte mich nur zeilenweise, – eben nur da, wo sie genial sind, – das andere ist alles langweilig. ... Nun schlaf süß, mein liebes Lieb, – ich will in Gedanken an Dich einschlafen.

Dein Fz.


Grüß K[aminsky] und streichle meine Rehchen und den alten Russi. Wie mag's Hanni gehn?

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 170-171.
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