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[190] 3.II 16.


Liebste, was magst Du bei Helmuths Brief gedacht haben? D.h., ich weiß natürlich, daß Du dasselbe dachtest wie ich: Mitleid nicht nur mit dem gequälten leiblichen Menschen, sondern doppeltes mit seiner Seele und seinem Geist. Er leidet nicht, um die Sünde und Wirrnis des Europäers zu büßen, sondern im Gegenteil sie zu glorifizieren. Mich hat ja der Krieg das erstere gelehrt. Wer diese Zeit so erlebt, kann wohl einen Gewinn und Sinn aus dem Kriege ziehen; der kehrt mit einem neuen Welt-Verstand in's Leben zurück; aber was soll man mit einem Geist wie Helmuth nach dem Kriege machen? Zudem er zweifellos die immense Majorität darstellen wird; was wie wir denkt, ist ein verschwindend kleiner Bruchteil, wahrscheinlich überhaupt nur ein paar Menschen. Denn die Teile, die auf den Krieg also solchen schimpfen, ohne auf seine tiefsten Ursachen, auf sich selbst zurückzugreifen, – mit denen paktiere ich nicht. Du sagst ganz richtig, daß es so wenig Menschen gibt, die Konsequenzen zu ziehen imstande sind, – darin liegt's. – ...

Eben kommt Dein lieber langer Brief über Koehlerabend, Militarismus u.s.w. – ich kann nur wieder sagen: verschwendet Euren Haß und Eure Trauer nicht am gegenwärtigen Zustand, sondern am allgemeinen. Du siehst sehr gut und scharf, aber zu nah, zu speziell; das Typische erscheint Dir nicht, darum kannst du das Spezielle auch so schwer überwinden.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 190.
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