254 [209] Brief an Paul Klee

10.5.1915


Lieber Klee, Dein guter Brief war mir ein rechter Freundschaftsgruß, der mir gutgetan hat. Du, Deine Frau und Maria, – Ihr scheint Euch ja auch in einem richtigen erbitterten Frontalkampf der Meinungen gegenüberzuliegen; ich kenne Maria ja gut: wenn sie einmal eine ideale Forderung aufstellt, da läßt sie nicht locker. Sie stellt immer gleich die selbstquälerische Gewissensfrage, während die meisten sich bei dem sich selbst ausgestellten Vertrauensvotum beruhigen; das sind die glücklicheren und gesünderen Naturen. Aber die Gewissensfrage (die Frage nach der Sache, nach dem Wesentlichen) bleibt doch die letzte und unumgängliche Frage, – nicht dein ›ich und die Romantik‹! Das Ich kann immer noch umgangen werden, ohne abzustürzen, – es wird und muß sogar umgangen werden, aber die andere Frage kann nicht umgangen werden, das: Mensch, werde wesentlich! Ich stehe hier ganz in Marias Ideen, – aber bei mir ergeben sich zum Teil sehr andere Folgerungen von Fall zu Fall, und[209] vor allem lehne ich Tolstois Gedankengang (in ›Was ist Kunst?‹) fast gänzlich ab (als sophistischen, unverbesserlichen Weltverbesserer und flaches Christentum). Aber daß Europa ein höchst unglücklicher ungesunder Nährboden für reine Kunst (das ist religiöse, allgemeingültige Kunst) ist, davon bin ich fest überzeugt. Maria scheint mir aber, durch Tolstoi verleitet, einen großen Fehler zu machen: Sie verwechselt allgemeingültig mit allgemeinverständlich! Ebenso greift sie mit manchen einzelnen Beispielen wie Kandinsky fehl oder schießt wenigstens weit über ihr eigenes Ziel und versäumt das Beste. In Kandinsky ist viel Unreines, das heißt Eitles, allzu persönlich Uninteressantes, auch persönlich Erklügeltes, aber ebenso viel Herrliches, Allgemeingültiges, Endlichgesagtes, daß das Gute seine großen Schwächen überwiegt. Maria schrieb mir letzthin sehr schön, daß alles an dem Akzent läge: in der Kunst darf es nicht heißen: ich empfinde so, ich habe dies und jenes erlebt und erlitten, sondern: ich empfinde, ich erlebte, ich litt. – Damit ist fast alles gesagt, aber von wie wenig Bildern und Tonstücken kann man das sagen? Vom ›Meister des Marienlebens‹ ja, von Dürer (mit Ausnahme einiger Holzschnitte) nein. Dieser Gedanke ist ein feiner Maßstab; nur muß man ihn nicht bloß, oder vielmehr überhaupt nicht auf Beethoven und Michelangelo etc. anwenden, sondern zunächst und am besten auf – uns selbst. Wo das Ich wichtig genommen wird, wichtiger als die Sache, da ist schlechte, unreine Kunst. Der Künstler ist Werkzeug und schafft selbstlos, (die Alten nannten es In spiration, entrückt sein) und steht hinter seinem Werk wie der Evangelist hinter dem Evangelium. Er muß nicht dem Werke Größe (seine immer beschränkte, bedingte Größe) verleihen, sondern das Werk ihm. Nur so wächst das Werk in's Ungemessene und Zeitlose. Wie soll man nur dieses Ichtum, diese Wurzel unserer europäischen Unreinheit und Unfrömmigkeit ausreißen? In den Aphorismen sah ich in der exakten Wissenschaft die Möglichkeit einer Reinigung, aber darüber muß man noch viel nachdenken. Ich bin wirklich wie ein Stück Land, über das die Pflugschar gegangen ist; es ist alles aufgewühlt, es schmerzt überall; ein gräßlicher Zustand. Es ist ganz gut, daß ich eine Uniform anhabe, da sieht's keiner; Vielleicht wächst alles doch ein bissel zusammen, bis ich heimkomme, sonst genier ich mich. Von Herzen, Euer Franz Marc.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 209-210.
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