257 [212] Brief an Helmuth Macke

26.6.1915


L.H.! Dein Brief vom 15. 6. hat mich sehr, sehr gefreut, wenn er auch nur Wehmütiges enthält, – was sollte er anderes enthalten! Ich be komme im Juli einen 10tägigen Urlaub – es wird mir nicht anders ge hen. Die Weltgeschichte artet bedenklich in Menschenjagd aus; es ist ja kein Zweifel, daß das grausame Spiel noch einen zweiten Winter und einen zweiten roten Sommer erleben wird. La bête humaine, – nun weiß man, was das ist. Ich gehöre aber durchaus nicht zu den Menschen, die den Krieg verurteilen. Wie kann man eine ehrliche Folge und Folgerung eines Prinzips verurteilen, in dem die Mensch heit seit unvordenklichen Zeiten aufgewachsen ist und das unsere Väter und wir selbst als eine Selbstverständlichkeit hinnahmen. Kapitalismus, Konkurrenzprinzip im Menschenleben, daß wir Menschen mit raffinierteren Mitteln den Konkurrenzgedanken ausbauten als die stumme Natur, ist doch nicht verwunderlich; da weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut. – Wir Menschen aber sind Wissende, daher nimmt der Konkurrenzkampf diese fürchterlichen Formen an. Dieser Krieg ist die notwendige Konsequenz dreier europäischer Jahrtausende, wenn wir den Blutgang heute auf pazifistischem Wege abbrächen, wäre gar nichts für die Menschheit und die Zukunft erreicht. Saigner au blanc, sagt der Franzose; ein Aderlaß der Europäer, bis die Adern schlaff werden und die Gesichter weiß, – vielleicht baut sich der kranke geschwächte Leib dennoch noch gesünder auf; irgendein hygienischer Instinkt muß die Völker doch so eine Heilung ahnen lassen, sonst hielten sie diese fürchterliche Menschenjagd nicht ab. Sie wird wohl noch von inneren Revolutionen abgelöst werden, – der Gründlichkeit halber. Und eins ist nicht zu wünschen; daß die Zentralmächte oder überhaupt irgendeine Macht überragend siegt; das darf man nicht zu laut sagen, – soll es auch nicht, das sehe ich gut ein –, aber es ist doch so. Es würde den Zweck, den die Natur verfolgt, ins Gegenteil verkehren. Und bei dem allen denke ich noch viel mehr, was sich nicht kurz in Briefen sagen läßt, über Kunst und Moral, über den ›Sinn des Lebens‹, wie Maria es nennt. Ich war ein glühender Marxist und Sozialist und hoffte so viel[212] von der Internationale, – heute weiß ich, daß auch sie der Menschheit den Sinn des Lebens nicht näher bringt und daß der Sinn des Lebens überhaupt nicht im Leben zu suchen ist, auf keine Weise, in keiner frühen und in keiner zukünftigen Zeit, sondern außerhalb der Welt, auf der ›andern Seite‹. Wir haben die menschliche ›Erkenntnis‹, den göttlichen, unnatürlichen Funken nicht, um uns damit auf dieser Welt einzurichten, sondern als erstes Atemholen in einem anderen Dasein, als Schwelle zum Geisterreich oder wie man das biblische ewige Leben nennen mag. Auf Worte kommt es da gar nicht an ... Von Herzen

Dein treuer F.M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 212-213.
Lizenz:
Kategorien: