August Macke 09.12.1910

[25]  

BRIEF AUS BONN


[nach dem 9.12.1910]

Tagernsee [durchgestrichen]

Da kannst Du meine Verfassung sehen.

Bonn, den ?

Du Spanier!


Lass Dir mal ganz lieb was erzählen. Dieses Bonn ist eine rechte Rentnerstadt. Alles sehr still, seriös, unauffällig. Die Gegend, in der wir wohnen, hat viel Anreizendes. Hundemeuten, Reiter und Reiterinnen, Kinder, die sich zerschlagen. Dann sehen einen ringsum die Häuser mit lebendigen Augen an. Mir ist dieser Teil der Stadt ganz ausserordentlich lieb. Dann haben wir ein Provinzialmuseum mit prächtigen Römerplastiken, Mosaiken, Gold- und Steinschmucksachen, vor denen Du auf den Knieen lägest und still wie ein römischer Kaiser betetest. Dann prächtige ›alte Holländer‹, alte Italiener, zwei Velasquez, überhaupt alles, was man braucht. Das Museum herrlich hell und modern. Der Direktorialassistent Dr. Cohen freundlich, schwerhörig, begeistert für modernste Kunst; hat sich einen Nauen gekauft, der mir riesig zusagt. Er erzählte mir, er habe Nauens grosses Bild in Photo an Helmuth geschickt. Wahrscheinlich in puncto ›neue Vereinigung‹. Ich beschäftige mich jetzt wieder sehr viel mit Theorie, habe mir einen Farbring fabriziert. Ich halte es für sehr wichtig, allen Malgesetzen auf den Grund zu gehen, besonders die modernsten mit den ältesten zu verknüpfen, um naiv mit der Kunst sich ausdrücken zu können. Schreibe mir mal was über folgende Sachen, die ich sammle und in denen ich Dich[25] bitte, auch was neues zu suchen und mir mitzuteilen. Vielleicht ist es Dir nicht neu. Ich hab es mir herausgenudelt aus meinen Eingeweiden:


3 Farben

Blau

Gelb

Rot


Auf Anfrage spielte mir unsere Freundin Job die drei entsprechenden Klänge auf dem Klavier, die nach ihrer Behauptung dieselbe grosse Rolle in der Musik spielen.


Also

Blau

Gelb

Rot

Parallelerscheinung

Traurig

heiter

brutal


(in Tönen, auch in Farben).


Alle Linien (bzw. Melodie) bestimmt die Folge der Farben (bzw. Klänge). Aufsteigende, absteigende Melodien, die sich in der Erfüllung wie Schwestern in die Arme sinken. Dabei kann das absteigende schon in Teilen im aufsteigenden enthalten sein und umgekehrt. Der durch die Linien (Melodien) geführte Farbkomplex ist die Frage auf die Antwort des Gegenkomplexes. (Signac ist doch ein sehr frei schaffender Farbenmusiker).

Dabei spielt hell und dunkel sehr oft die Rolle der Melodieführung, ebenso gelb und violett, orange, blau, grün und rot.

Deshalb auch die Sehnsucht nach reinen Klängen ohne Grau und Mischmasch.


August Macke 09.12.1910

Die Grenzen von Gelb, Rot, Blau verschmelzen zu Orange, Violett, Grün, wobei das Hellerwerden dem Höhersteigen der Klaviertöne entspricht, wobei die Masse der[26] Oktaven des Klaviers (ich glaube 8) der Zahl der konzentrischen Kreise entspricht. Weiteres Ineinanderfliessen der Nachbarfarben gibt noch Blaugrün, Blaurot, ausser Blau (d.h. warmes und kaltes Blau) Gelbrot, Blaurot ausser Rot etc.

Die Komposition mit diesen Mitteln hat nun zu »unbestimmter Stunde aus einer heute uns noch verborgenen Quelle« zu geschehen, freudvoll leidvoll, kraftvoll, gedankenvoll, furzvoll.

Mich beschäftigen augenblicklich die Gedanken an japanische erotische Blätter, an Giotto, Michelangelo, aber auch an Pferde, die in Sindelsdorf gemalt werden. Ich freue mich über Deine Pferde und Bären täglich. Kerl, könnte ich die Liebe so malen wie die Renaissanceleute das Leid gemalt haben! Ich studiere die Formen des Leides, um es zu lernen. Überhaupt der Gedanke mit der Reiterschlacht ist göttlich oder ein Kindermord oder der Raub der Sabinerinnen. Wie versenkten sich doch früher die Menschen in sich, daher ihre Grosse Kunst. Heute versenkt man sich in Untergrundbahnen und Cafehäuser. Die Maler aber flüchten in die Einsamkeit und arbeiten an sich selbst. Das ist vielleicht nicht zeitgemäss und modern, aber für die Kunst (glaube ich) nützlich.

So, nun leb wohl. Ich freue mich, wenn Du arbeitest. Gib Deiner Zeit Tiere, vor denen man noch lange steht. Die Hufschläge Deiner Pferde mögen hallen bis in die fernsten Jahrhunderte. Deshalb nagele sie nur gut. Schreib mir mal was. Grüsse Frl. Franck, Niestlé und Legros und Dich selbst


Dein Aug. Macke


Hoffentlich bist Du nicht bös über den Furzbrief.

Schicke die Sachen, wie Du willst. Schreibe dazu, was ich vielleicht Koehler schicken soll.

Quelle:
Franz Marc, August Macke: Briefwechsel. Köln: DuMont, 1964., S. 25-27.
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