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[204] Unscheinbar, fast hoffnungslos tauchte vor Jahren der Gedanke einer Kunst der ›reinen Formen‹ auf. Ja, seine eigenen Rechtfertigungen versteckten sich hinter Scheingründe und Theorien, die der Kühnheit und Reinheit der neuen Werke kein gutes Geleite gaben. Niemand wagte ganz schlicht zu sagen, daß die Rechtfertigung im neuen europäischen Schauen liegt, in einer neuen Weltanschauung, und daß wir schon mitten im Lichte des neuen Gesichtes stehen, das – früh oder spät – unsre Kunst neu formen will.

Der Weg liegt übersät von Mißverständnissen. Von einem will ich reden, das ich als eines der schlimmsten erkannt habe, die Gewohnheit, mit besonders schlauer Miene das Wie in der Kunst gegen das Was auszuspielen. Das setzt zum ersten und schlimmsten voraus, daß man von Kunst überhaupt reden könne, wo das Wie, die Qualität fehlt. Es wäre also höchstens eine Rede an die Dilettanten. Künstler kennen nur das Was, den Inhalt. Die Form ist ihre intuitive Begabung, das biblische Pfund.

Das Volk hat sich in seinem Instinkt nie beirren lassen, ausschließlich nach dem Inhalt seiner Kunst zu fragen.

Das absolute Unvermögen des einfachen Men schen, ein gläubiges und vertrauliches Verhältnis zu den neuen Kunstformen zu gewinnen, leitet sich vornehmlich aus jenem auch für die Suchenden und Schaffenden verhängnisvollen Mißverständnisse her. Das Volk wird niemals willig sein, eine Form zu würdigen, deren Inhalt sein Geist nicht sieht und sein Herz nichts angeht. Wo aber das Volk ein gläubiges und begeistertes Interesse für den ›heiligen Inhalt‹ fassen kann, kennt es auch keine Formschwierigkeiten mehr. Peru, Siena und die Glasfenster des Straßburger Doms sind beredte Zeugnisse. Was da und dort dem Volke möglich war, sollte ein neues Mal nicht mehr Ereignis werden?

Es müßte schlecht mit dem Europäer bestellt sein, schlecht mit der Frucht seiner Ungeheuern Geistesarbeit, wenn dieses Riesenkapital der geistigen Geschichte im Sande der Wohlfahrt und Nützlichkeit verliefe, – ohne in Geist zu münden und ohne zur Form zu kommen.

Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 204-205.
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